„Meine letzte Würde wollte ich nicht abgeben“ – Jürgen Schneider, Träger des Bundesverdienstkreuzes, ehemals wohnungslos

Jürgen Schneider weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, arm zu sein. Der 61jährige war viele Jahre lang wohnungslos. Dann entschloss er sich, aktiv zu werden für Menschen mit Armutserfahrung. Dafür erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande. Ein Interview.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Schneider! Sie haben kürzlich das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten. Wofür wurde es Ihnen verliehen?

Für meine Arbeit in der Nationalen Armutskonferenz, für den Aufbau des Armutsnetzwerks e.V. und für den Aufbau von Wohnungslosentreffen. Und außerdem für meinen europäischen Einsatz beim European Anti-Poverty Network. Die Laudation des Landrats, Tobias Gerdesmeyer, wurde etwas länger. (lacht)

Sie engagieren sich als jemand, der selbst sehr lange Zeit wohnungslos war. Wie kam es dazu, dass Sie Wohnungslosigkeit und Armut auch als politische Themen angehen wollten?

Das ist schon 30 Jahre her, da sagte ein Sozialarbeiter zu mir, ich sollte doch mal eine Partei gründen. Ich habe dann allerdings nie eine gegründet und bin auch keiner beigetreten. Ich will mit allen demokratischen Parteien sprechen, aber an keine Parteilinie gebunden sein. 2007 wurde mein Engagement für Wohnungslose dann sehr konkret und intensiv. Da habe ich gemeinsam mit Dietmar Hamann, unterstützt von der Diakonie Niedersachsen, eine Website gestartet: berber-info.de, ein Informationsportal für Wohnungslose und für von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Später kamen die Wohnungslosentreffen und andere Aktivitäten dazu.

Was sind die größten Probleme und Gefahren, wenn man wohnungslos ist?

Die Probleme sind ganz alltäglich: Wo schlafe ich und wo kriege ich eine warme Mahlzeit her? Die größte Gefahr sind die Leute, die ein Bier zu viel getrunken haben und sagen: „Jetzt machen wir mal einen Obdachlosen platt“. Ich selbst habe nur verbale Angriffe erlebt. Aber es gibt auch körperliche Angriffe, wie etwa in Berlin, wo Obdachlose angezündet wurden. Vor Gewalt ist natürlich niemand völlig gefeit. Auch andere Menschen erleben Übergriffe. Aber Obdachlose haben eben keine Tür, die sie abschließen können.

Erfahren Menschen auf der Straße mehr Aggressionen von ihren Mitbürger*innen als früher?

Nein, das war schon immer so. Wer ein anderes Leben führt, ein Leben, das nicht in die Gesellschaft passt, der wird leider Aggressionen erleben.

Ist das soziale Klima in Deutschland nicht insgesamt rauer geworden?

Das schon. Schauen Sie mal, wie viele Menschen abends, wenn es dunkel wird, in deutschen Innenstädten auf der Straße herumhängen. Zumindest wenn sie nicht gerade vertrieben werden. Das ist schon ein Zeichen für den Zustand unserer Gesellschaft. Das zeigt, dass unsere sozialen Strukturen nicht mehr funktionieren.

Was ist Ihre wichtigste Forderung für Menschen in Armut und Wohnungslosigkeit?

Dass diese Menschen eingebunden werden in die politischen Entscheidungen, die sie betreffen.

Wie verständigt sich die Anti-Armutsbewegung eigentlich auf europäischer Ebene? Gibt es da Dolmetscher?

Leider nein. Englisch, Spanisch oder Französisch sind die Hauptsprachen, da kann man sich eine aussuchen. Leider habe ich kein besonderes Sprachtalent, aber ich komme zurecht. An der Sprache darf es nicht hapern. Dafür kämpfe ich. Es nehmen an unseren europäischen Treffen Menschen aus vielen Ländern teil. Die sprechen oft kein Englisch, aber haben viel zu sagen.

Jürgen Schneider in seiner neuen Wohnung beim Video-Interview mit kda-Referent Philip Büttner / Screenshot: kda Bayern

Man darf Ihnen nicht nur zum Bundesverdienstkreuz, sondern auch zu einer eigenen Wohnung gratulieren, die sie kürzlich in Dinklage bezogen haben.

Ach, ich habe auch früher immer mal wieder irgendwo gewohnt.

Und wie fühlt es sich an, nun die erste eigene Wohnung zu haben?

Fragen Sie mich in einem Jahr nochmal. Ich brauche noch Zeit, mich daran zu gewöhnen. Ich habe hier 48 Quadratmeter. Die Wohnung ist wunderbar geschnitten, sogar mit kleinem Balkon. Es ist toll, ich sitze hier in meinem Wohnzimmer und brauche auf niemand anderen zu achten. Das hatte ich früher nie. Aber ich brauch noch Eingewöhnungszeit nach dem Leben, das ich so anders geführt habe.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie wohnungslos wurden?

Ich kann das nicht erklären. Es war damals war eine bewusste Entscheidung. Ich bin mit 17 Jahren aus dem Jugendheim in die Wohnungslosigkeit gegangen, hatte einfach einen dicken „Kopp“. Die Pädagogen kamen nicht mit mir zurecht. Ich fing eine Bäckerlehre an und brach sie wieder ab. Habe mich dann mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, war Tagelöhner. Pfandflaschen habe ich nicht gesammelt, nie in Müllereimern herumgewühlt. Meine letzte Würde wollte ich nicht abgeben.

Wie haben Sie sich ernährt?

Mit Kaltverpflegung. Oder ich habe mir etwas mit dem Campingkocher zubereitet, hatte dann allerdings immer diesen Sprit-Geruch überall drin. Manchmal bin ich eingeladen worden zum Essen. Es ist nicht schön, wenn man andere Leute danach fragen muss. Aber bei den Tafeln bin ich fast nie gewesen. Wir machen die Leute ja abhängig von den Tafeln. Ich habe nichts dagegen, wenn sie Lebensmittel retten und verteilen. Aber warum gibt es die schon so lange? Warum lassen wir den Staat bei der Sicherung des Existenzminimums aus der Verantwortung?

Reicht das Bürgergeld nicht?

Nein. Ich merke das als Bürgergeld-Empfänger auch jetzt, wo ich nicht mehr wohnungslos bin und zum Beispiel den Strom bezahlen muss oder Telefon und Internet. Auch das Geld, das ich zur Ersteinrichtung der Wohnung bekommen habe, war sehr wenig. Damit kann man sich nicht einrichten, auch wenn man das Billigste nimmt. Ich kann mir auch Kleidung kaum leisten. Muss außerdem noch Schulden abtragen. Da bleibt nicht viel übrig zum Leben.

Titelbild: Jürgen Schneider (links) am 24.3.2025 bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande durch Tobias Gerdesmeyer, Landrat von Vechta, Niedersachsen / Fotograf: Frederik Böckmann

Interview: Philip Büttner

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