Wie viele Menschen fühlen sich derzeit nicht wahrgenommen und ins Unrecht gesetzt? Die sozialen Medien sind voll dieser Klagen. Angeklagt ist „die Politik“ oder „die Wirtschaft“, die also, die es richten sollen, die verantwortlich sind für die um sich greifenden Schlamassel. Abstrakte Größen allzumal, „die Politik“, selbst wenn man sie reduziert auf „die oder jene Partei“ oder „die Regierung“, oder „die Wirtschaft“, selbst wenn man sie reduziert auf „die Banken“ oder „die Bahn“ oder „die Manager der Automobilindustrie“.
Geklagt wird auch in der Bibel sehr viel, zum Beispiel beim Propheten Jesaja. „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: „Mein Weg ist vor dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber?“ (Jesaja 40,27) Auch hier fühlen sich Menschen nicht wahrgenommen und ins Unrecht gesetzt. Konkret, viel konkreter jedoch ist der Adressat. So konkret, dass er den klagenden Menschen antwortet. Der HERR antwortet nicht direkt, aber doch durch einen, der für ihn spricht. Jesaja, der Prophet, Für-Sprecher Gottes.
Dabei steckt schon eine Antwort in dem, wie der Prophet das Volk in seiner Klage zitiert. So mannigfaltig wie heute die Menschen klagen, so mannigfaltig darf man sich dies zu Zeiten des Propheten vorstellen. Und allein in der Art und Weise, wie die Klagen gebündelt werden, steckt schon eine Antwort.
Wenn „die Begrenzung der Migration“ oder „die Aufhebung der Schuldenbremse“ oder „der Wachstumsturbo für die Wirtschaft“ oder „Deutschland first“ als die Mutter aller Lösungen verkauft wird, dann wird damit auch eine Bündelung aller Klagen verkauft. „Zornbanken“ hat der Philosoph Peter Sloterdijk das einmal in seinem Buch “Zorn und Zeit” zutreffend benannt. Wer es schafft, den Zorn der einzelnen aufgrund ihrer eigenen spezifischen Not zu einem einzigen Thema zu bündeln, tut nichts anderes, als Menschen mit einem allgemeinen Renditeversprechen einzuladen, ihren Zorn auf ein Konto ihrer eigenen Zornbank einzuzahlen. Der Zahltermin samt Zinseszins kommt dann, wenn die Macht ergriffen ist, so das Versprechen. Die Geschichte der Moderne ist nach Sloterdijk erzählbar als die Geschichte solcher Zornbanken.
Anders nun bündelt der Prophet. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: „Mein Weg ist vor dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber?“ Die mannigfaltigen Sachverhalte, über die das Volk klagt, werden in zwei zentralen Worten gebündelt: „mein Weg“ und „mein Recht“. Diese Worte sind beileibe nicht willkürlich gewählt. Es sind zentrale biblische Worte, biblische Worte, die vom biblischen Gott und zugleich vom biblischen Menschen sprechen.
So wie der Prophet sie verwendet, zeigt er jedoch, wie missverständlich das Volk sie verwendet. „Mein Weg“, „mein Recht, „mein Gott“ – wer so redet, der bleibt schon im Reden gottlos. „Meins, meins, meins“ – sogar Gott wird dann noch „vermeinnahmt“. Und dieser „vermeinnahmte“ Gott ist gewiss nicht der Gott der Heiligen Schrift. Noch schlimmer: Wer so redet, der hat vergessen, dass Gottes Weg und Gottes Recht zum Ziel kommt. Und indem Gottes Weg und Gottes Recht zum Ziel kommen, kommt der Menschen Weg auch zum Ziel und empfängt der Mensch Recht. Davon spricht Gottes Wort immer und immer wieder neu.
Auch der Prophet tut dies, wenn er weiterspricht:
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke dem Unvermögenden
(Jesaja 40,28.29).
Hier, wo diese gute Nachricht durchdringt, erwächst aus der Menschen Not nicht die bittere Frucht des Zorns. Dann gibt es auch nichts mehr einzuzahlen in die Zornbanken dieser Welt. So wird möglich, was der Apostel Paulus wie folgt beschreibt: Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben:
„Die Rache ist mein; ich will vergelten”, spricht der Herr.
(Römer 12, 17-19).
Pfarrer Peter Lysy, Leiter kda Bayern
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