Den digitalen Wandel gestalten

Wenigstens für den Sabbat ist die Sache klar: Er ist für den Menschen gemacht. Was für ein lebenswichtiges und zugleich auch sperriges Geschenk in einer digital beschleunigten Welt: Die Grundhaltung, mit der Digitalisierung diskutiert wird, ist: Wie kommen wir dem hinterher, was uns unweigerlich immer schon vorauseilt? Werden wir uns als Kirche auch weiterhin in nacheilendem Gehorsam bemühen, digital anschlussfähig zu werden, um nur ja den rasenden Zug in die Zukunft nicht zu verpassen? In was für eine Zukunft soll uns der Zug denn mitnehmen?

Wenn Werkzeuge durch Sprache zum Leben erweckt werden, wird es gefährlich. Das gilt nicht nur für wassertragende Besen. Die Digitalisierung „fordert, fördert, durchdringt, entscheidet, sie ist nicht aufzuhalten“, so geht die Rede: „Die Digitalisierung verändert die Welt.“

Doch Vorsicht, Sprache kann Dinge zu Subjekten machen und Herrschaftsverhältnisse umkehren. Sprache schafft Realität. Darum sei in ungewohnter, aber korrekter Grammatik gesagt: Menschen verändern durch Digitalisierung ihre Welt. Digitalisierung nutzen wir zur Beschleunigung. Im klassischen Kapitalismus haben Menschen durch ihre Technik Räume lediglich schrumpfen lassen. Mit der Digitalisierung kann jeder und jede von uns sich mit jedem und jeder an jedem Ort auf der Welt synchronisieren. Aber haben wir dabei tatsächlich Zeit gewonnen? Mit der Digitalisierung bekommen wir ein Potenzial zur Entgrenzung in die Hand: Arbeit und Freizeit, dienstlich und privat, privat und öffentlich. Grenzenlos leben und arbeiten ist eine feine Sache, aber gefährlich. Jede Pflanze, jede Zelle „weiß“ von ihren Grenzen. In der Natur gibt es unbegrenztes Wachstum nur bei hemmungslos wuchernden Krebszellen. Potenzial zum Wuchern hat auch das digital beschleunigte Kapital. Gegenstandslos in Bytes und Bits verwandelt, scheint es derzeit völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Sind wir in einer grenzenlosen „Wuchergesellschaft“ angekommen?

Der Tübinger Wirtschaftssoziologe Christoph Deutschmann hat den Begriff der „Mythenspirale“ geprägt: Technische Innovationen setzen sich am Markt nicht deswegen durch, weil sie gut oder nützlich sind. Erst wenn sich mit einer Erfindung kollektive Hoffnungen und Fantasien verbinden, dann wird sie erfolgreich. Digitalisierung ist eine gewaltige Projektionsfläche für heimliche und unheimliche menschliche Wünsche. Das hat sie so erfolgreich werden lassen. Also auch Wünschen und Hoffen schaffen Realitäten. Wie schön – und wie gefährlich, denn: Kennen wir unsere Wünsche?

Die Legende sagt, Newton hätte einen Apfel zu Boden fallen sehen. Das stimmt nicht. Was sein Genie wahrnahm, war die unsichtbare Kraft, die den Apfel zur Erde zieht. Wer Digitalisierung verstehen will, kann es ebenso machen. Er/Sie braucht sich nicht auf die neuen Technologien selber zu fixieren, sondern kann
achthaben auf die versteckten Geschäftsmodelle und unternehmerischen Entscheidungen, die dahinter stehen, und sich ihrer bedienen: Wer profitiert von den zynischen und menschenverachtenden Narrativen, dass die Technik auf Dauer Arbeitsplätze ersatzlos vernichten werde, dass die sozialen Unterschiede künftig unausweichlich größer würden und dass die Eliten sich etwas einfallen lassen müssten, um die künftig „nutzlosen Massen“ ruhigzustellen – womöglich mit digitalen Computerspielen?

Es gibt, abgesehen von unseren Denkgewohnheiten und Vorurteilen, keinen Grund zu der Annahme, dass Märkte und Technologien immer nur in einer ganz bestimmten Weise und Richtung funktionieren müssen.

Statt in einer totalitären Gesellschaft zu enden, könnten digitale Technologien ebenso dazu führen, die Art unseres Wirtschaftens lebensdienlich werden zu lassen: Gerechter und damit den Frieden fördernd und zugleich nachhaltig im Blick auf die begrenzte Welt. Sprache schafft Realität, Wünsche schaffen Realität, und auch Bilder sind ungemein wirkmächtig in der Gestaltung von Realitäten. Wir haben sorgfältig mit ihnen umzugehen! Die Bilder und Fantasien, mit denen wir uns umgeben, bleiben nicht folgenlos. Zum freien Leben befreien lebensdienliche Bilder.

Quelle: Dr. Jürgen Kehnscherper, Themenheft 2018 „APP in die Zukunft – Den digitalen Wandel gestalten“, Evang. Verband Kirche – Wirtschaft – Arbeitswelt, Hannover