Bildung „auf dem Weg“

Predigt gehalten am 19. Oktober 2019 im Wildbad Rothenburg anlässlich des 9. Forums Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt zu Lukas 24,13-35

Liebe Gäste hier in Rothenburg, liebe Kolleginnen und Kollegen,

eine der schönsten Geschichten des Neuen Testaments erzählt davon, wie unterwegs gelernt wird. Statt in der Schule, also in der Synagoge, zu Füßen des Lehrers, des Rabbi sitzend gehen Lehrer und Schüler auf einer Straße, einem Weg, von der Stadt zum Dorf, von Jerusalem nach Emmaus. Wir haben sie gerade als Lesung gehört.
Die Jünger suchen keine dörfliche Abgeschiedenheit in Emmaus. Sie suchen wahrscheinlich gar nichts. Sie fühlen sich allein. Ihr Gang nach Emmaus ist zugleich ihre Flucht aus der Welt, aus der Stadt Gottes. Die Geschichte, die Sie alle kennen, lässt die depressive Stimmung derer ahnen, die sich von ihrem Lehrer auf immer verlassen fühlen. Sie waren Schüler des Rabbi aus Nazareth, auf den sie alles gesetzt hatten. Sie wissen viel zu erzählen. Sie breiten es vor ihrem fremden Begleiter aus. Das Wissen von damals bewegt die Jünger. Aber sie haben kein Ziel mehr, auch wenn sie zu einem Ort unterwegs sind.
Der Fremde bei ihnen ist ein Begleiter . Seine Anwesenheit ermuntert sie, immer mehr zu erzählen. Der Fremde erscheint ziemlich gelassen, klärt sie nicht auf, belehrt sie nicht, jedenfalls zunächst nicht. Er geht mit. Dann verändert er sein Rollenverhalten. Er interveniert: „Begreift ihr denn nicht?“ Aber sein anschließender Lehrervortrag nützt nichts. Er belehrt, vermittelt Kenntnisse, aber er erreicht die Angesprochenen nicht. Sie hören, aber sie gewinnen keine Erkenntnis. Angesichts dieses enttäuschenden Lehrerfolgs versucht der Fremde es in letzter Minute mit einer Art Rollenspiel. Am Abend stellt er sich gehend, um zum Bleiben genötigt zu werden. Damit inszeniert er eine Situation, die es ihm ermöglicht, sein Lehren fortzusetzten. Aber jetzt erklärt er nicht mehr, sondern vollzieht ein Ritual, das ihn identifiziert. In der Wahrnehmung des Rituals (nämlich bei der Mahlliturgie) passiert es, ereignet es sich: den Schülern gehen die Augen auf. Im Ritual wird ihnen der präsent, den sie bei den Toten geglaubt haben. Im Ritual fällt ihnen Erkenntnis zu. Sie fühlen sich getroffen, betroffen und ändern augenblicklich die Richtung ihres Weges. Kurz danach gehen sie vielleicht etwas überstürzt ins Dunkel der Nacht hinein zurück. Aber das ist ein Weg nach vorne.
Gibt es aus diesem Lehrstück etwas zu lehren, etwas zu lernen? Kann die Geschichte für Sie bei Ihrer Tagung hier einen Impuls setzen?

Ich meine schon.
Begleitung ist eine pädagogische Kategorie für unterwegs. Diese Wahrheit mutet sowohl den Begleitenden wie denen, die begleitet werden, einiges zu:
Unterwegs zu sein verlangt Abschiede, Trennungen, Aufbrüche und den Mut, sich zu bewegen. Unterwegs meint Wechsel und Veränderung. Unterwegs hat etwas Unstetes und Unruhiges. Heute passiert das in der Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen digital und analog. Zwar sollten wir die neuen Gefahren digitaler Pfade thematisieren, sie aber nicht verteufeln.
Ein Suchender ist der Mensch, – wenn er lebendig ist.
Begleitung muss aufs Spiel setzten, um zu gewinnen: Wissen, Erkenntnis, Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern, nicht zuletzt sich selbst aufs Spiel setzen. Die rechten Begleiter geben uns die Bleibe nicht, nach der unser aller Bedürfnis ist. Auf dem biblischen Lehr- und Lernweg nach Emmaus verschwindet der fremde Begleiter so unerwartet, wie er kam. Und was er gegeben hat, war keine Bleibe, allenfalls Impuls, Motivation, Hilfestellung zur Erkenntnis.
Und darin Pädagogik pur.

Gut – soviel mal aus unserer Emmausgeschichte – als Anregung, als Aufregung, als Stachel – wenn wir uns jetzt unserem Schulbereich näher zuwenden. Viel Aufregung hat es in den letzten Jahren gegeben, welches System von Schule unseren Bildungszielen am dienlichsten ist. Immer wieder ist dabei die Frage in den Hintergrund getreten, welches System von Schule unseren Kindern und ihrem Zurechtfinden in diesem Leben am dienlichsten ist.
Macht es Sinn, so früh nach der vierten Klasse auszusortieren? Braucht es die getrennten Schularten Mittelschule, Relschule, Gymnasium, Förderschule? Sollen acht oder neun Jahre Gymnasium aufs Studium vorbereiten? Die Frageliste ließe sich beliebig verlängern. Um Antworten muss gerungen werden. Und auch kirchliche Vertreter sollten nicht vorschnell für die eine Struktur Stellung beziehen und die andere verwerfen. So einfach geht das nicht. Aber einfach und klar ist unsere Aufgabe, bei all den Debatten immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen, dass es um das Wohl der Kinder gehen muss. Dass nicht ökonomische und materialistische Interessen unser Bildungssystem bestimmen dürfen. So hat sich z.B. bei der Frage ums Gymnasium unsere Kirchenleitung für eine variable Mittelstufe eingesetzt, die es je nach Begabung und Lernvermögen des einzelnen Kindes ermöglicht in acht oder neun Jahren die Hochschulreife zu erlangen. Natürlich ist das für manche Schulen schwer zu organisieren. Aber vielleicht geht es eben nicht einfacher.

Soviel zu den Fragestellungen rund um die Struktur von Schule, sozusagen die Frage auf welchem Weg wir am besten von Jerusalem nach Emmaus gelangen. Vielleicht können wir darüber ja auch noch im Anschluss ins Gespräch kommen.
Jetzt aber noch ein Blick auf die Art, wie wir Schule, wie wir Unterricht gestalten. Freilich, auch wenn Exkursionen, Kirchenbesuche, Schullandaufenthalte den Schulalltag unterbrechen sind wir doch die meiste Zeit in den Schulgebäuden. Also weniger beflügelnde Wegerfahrung, die körperliche und geistige Prozesse initiiert. So ist es unsere Aufgabe, uns darum zu bemühen, die Art der Didaktik zu simulieren, die bei den Jüngern zur Erkenntnisgewinnung geführt hat. Da können uns digitale Strukturen und Medien sehr hilfreich sein.

Im Moment werden in Bayern neue Lehrpläne eingeführt, die stärker darauf schauen, was die Schüler können sollen, wenn sie den Unterricht hinter sich haben. Bisher war der Blick mehr auf die Stoffinhalte gerichtet, die durchzunehmen waren. Kompetenzorientierung ist der Fachbegriff dafür. Im Religionsunterricht geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler fähig werden, ein eigenes religiöses Leben entwickeln zu können und in die Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu integrieren. Sie sollen zur Auseinandersetzung mit christlichem Glauben und Handeln angeregt und zu einem achtsamen Umgang mit Mensch und Welt hingeführt werden. Der Religionsunterricht will soziales und kommunikatives Lernen unterstützen, Toleranz und Empathie fördern.
Dazu muss ihr jeweiliges Verständnis von Gott und der Welt ernstgenommen werden, Ausgangspunkt und Ziel sein. Für Kinder und Jugendliche ist die digitale Welt ein Teil ihrer Welt- und Lebenserfahrung. In der Emmausgeschichte leuchtet diese Vorgehensweise auf. Der Begleiter interessiert sich für das Verständnis der Jünger und lässt es sich erklären. Damit begnügt er sich aber nicht. In einer anregenden Lernsituation, im Brechen des Brotes beim Abendessen führt er das Verständnis der Jünger weiter. So kommt der Lernerfolg zum Durchbruch: „Da wurden ihre Augen geöffnet“ heißt es bei Lukas.
Und so geht es auch bei uns darum, nach fantasievollen kreativen Möglichkeiten zu suchen, wie bei Kindern eine Erkenntniserweiterung, ein Lernerfolg arrangiert werden kann. Und dann müssen sie selber daran weiterarbeiten. In der Geschichte heißt es „und er verschwand vor ihnen.“ In der Schule wird die Lehrkraft nicht verschwinden, sondern nach geeigneten Möglichkeiten suchen, wie neue Erkenntnis verarbeitet und kommuniziert werden kann.

Liebe Gemeinde – zum Schluss:
Die Reformation wird immer wieder als Bildungsbewegung bezeichnet – und das zu Recht. Der Mensch soll zu einer eigenen Urteilsfähigkeit finden, aus der Unmündigkeit befreit werden.
Martin Luther fordert die Obrigkeit auf, Schulen zu errichten und Mädchen und Buben dort zu bilden.
Philipp Melanchthon kümmert sich in besonderer Weise um die Neugestaltung des Schulwesens und erstellt zahlreiche Unterrichtsbücher. Als „praeceptor Germaniae“ – als „Lehrer Deutschlands“ geht er in die Geschichte ein.
Und so tut es uns gerade als evangelischer Kirche gut, immer wieder auf die Bedeutung von Bildung und Bildungsprozessen hinzuweisen.

Begleiten, in Obhut nehmen – aber auch wieder loslassen und neue Blickrichtungen zulassen.
Tradition bewahren, einander annehmen und auch wieder loslassen um Neues in den Blick zu nehmen.
Amen.

Autor: Pfarrer Klaus Buhl, Leiter des Religionspädagogischen Seminars in Heilsbronn