„Einmal die Woche macht er blau“

Predigt zu Prediger 3 anlässlich der Wallfahrt der Friseurinnung

Alles hat seine Zeit, steht in der Bibel. Eigentlich ein beruhigender, ein schöner Gedanke! Nur oft sieht es so aus, fühlt es sich an, als hätten wir zu wenig Zeit. Vor allem für uns selbst. Woran liegt´s?
Meistens an uns selbst: Wir wollen zu viel, oder gerade das Unmögliche, oder wissen selbst nicht, was uns das Wichtigste ist – oder was wir eigentlich wollen. Vielleicht ist es bei Ihnen anders, bei mir ist es so.

Ich kaufe Pflanzen für das Grab meines Sohnes. An der einzigen Kasse im Baumarkt staut sich‘s. Geschätztes Durchschnittsalter der Kunden 65+. Bezahlt wird in bar, Cent genau. In der Kassenschlange nimmt der Unmut nach hinten erkennbar zu. „Heut ist wieder Rentnertag!“ stöhnt die Kassiererin als ich dran bin. „Die haben am wenigsten Zeit von allen.“ „Stimmt!“ sage ich zu ihr und gebe ein Lächeln dazu. Sie schaut verdutzt. „Ich bin auch Rentner und mit 35 hat man einfach noch mehr Zeit als mit 75. Aufs Ganze. Die Zeit läuft…“. Einen Moment denkt sie nach, dann kommt ein Lächeln zurück und sie sagt: „Bleiben Sie, wie sie sind!“. Jetzt schaue ich verdutzt.

Als ich meinen afrikanischen Freunden – ohne Hintergedanken – Armbanduhren als Geschenk mitbrachte, sagte mir ein Kollege dort: „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit.“

Gewiss haben auch Sie Beispiele dafür, dass und wie wir Zeit unterschiedlich erleben und empfinden. Manchmal dehnen sich Sekunden zu kleinen Ewigkeiten und dann wieder rennt sie uns sozusagen davon. Es gibt also einen wichtigen Unterschied zwischen der gefühlten Zeit und der Uhrzeit. Und erst recht zwischen Uhrzeit und Lebenszeit.
Zeitgefühl kann Verschiedenes sein: Ob und wie jemand seine Arbeits-oder Freizeit sinnvoll plant und nutzt, oder ob jemand auch ohne auf die Uhr zu schauen immer ziemlich genau weiß, was jetzt für ihn selbst wichtig und dran ist. Oder ob ich erkenne und spüre, in welcher Zeit ich lebe: Was mich und andere beeinflusst oder beherrscht, welche Themen, Aufgaben und Probleme für das Leben auf der Welt jetzt und in Zukunft wichtig sind.
Für mein Zeitgefühl ist der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel sehr wichtig. Bei Neumond und abseits des künstlichen Lichts der Städte. Am liebsten oben auf dem Berg oder auf dem Meer im Süden. In der Stille mich in meiner Zeit zu suchen und zu spüren, inmitten der Hunderte von Milliarden Jahren des Universums.
Münchner Forscher haben untersucht, was unser Zeitgefühl bestimmt und entdeckt, dass der Rhythmus des Herzens eine wichtige Rolle spielt. Personen, die ihren eigenen Herzschlag gut fühlen können, haben ein genaueres Zeitgefühl. Man vermutet deshalb, dass unser Gehirn Körpersignale wie zum Beispiel den Herzschlag oder den Atem nutzt, um unsere persönliche Zeit zu schätzen. Auch die Restzeit.

Unser Körper samt Seele und Geist sind die „Uhr“ für unsere Leben. Letztlich geht es darum, wie unsere inneren Rhythmen und unser persönliches Erleben mit dem, was von außen durch Natur und Gesellschaft als Rhythmus vorgegeben wird, in Takt kommen und sind.
Wir empfinden Zeit verschieden. Sie ist in Wahrheit noch mehr als die Uhrzeit, die Frist, das Haltbarkeitsdatum. Nicht nur eine Linie, die von links nach rechts verläuft, – keine Portion uns von Gott, dem Schicksal oder Zufall zugemessen. Auch anderes als ein leerer Raum, den wir mit allem möglichen möglichst schnell anfüllen müssen, schon gar nicht mit Arbeit, Spaß oder Geld.
Zeit ist auch ein Zustand, eine Geschichte, die von jeder und jedem immer neu erzählt wird und sich nicht wiederholt. Weil alles seine Zeit hat. Seine ganz besondere.
Sie ist Höhe und Tiefe, Lebensqualität, Zusammenhang, Schöpferkraft, Veränderung. Es gibt sogar Augenblicke im Leben, da fallen wir heraus aus ihr. Die Uhren ticken weiter im Sekundentakt, aber wir empfinden einen angstfreien Zustand der Zeitlosigkeit, der uns und alles umfasst. Wo Zeit nicht vergeht, sondern trägt. Und ich spüre, erkenne: Meine Zeit ist alle Zeit. „…mein Alltag, mein Geschick, sind mitten in der Zeit, ein Stück der Ewigkeit“, wie es in einem neueren Kirchenlied heißt. Oder wie Marcel Proust schreibt: „Eine Minute, frei von der Ordnung der Zeit, schafft in uns – um sie zu fühlen – den Menschen wieder, frei von der Ordnung der Zeit.
Es heißt: Mach was aus deinem Leben, mach was aus jedem Augenblick. Aber manchmal ist es ganz anders: Der Augenblick macht etwas mit uns und aus uns. Nicht nur wir ergreifen den Augenblick, sondern werden von ihm ergriffen. Nicht wir nutzen die Zeit, sondern sie nutzt uns.

Ja, alles hat seine Zeit, wie der Prediger Salomons schreibt, das Geborenwerden und Sterben, das Pflanzen und Ausreißen, das Weinen und Lachen, das Klagen und Tanzen. Reden und Schweigen, Lieben und Hassen, Streit und Friede… – alles hat seine Zeit. Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit und hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt, nur dass wir nicht ergründen können, was er tut, weder Anfang noch Ende.
Wie gut! Aber Gott gönnt sich selbst immer wieder eine Pause. Und uns auch. Einmal die Woche macht er blau. Steht in der Bibel. Ganz vorne! Ist also wichtig. Gott gibt sich selbst Zeit zur schöpferischen Pause, zum Chillen und in sich gehen. Zum feiern und nach-denken, oder macht einen Ausflug durchs Weltall. Oder macht einfach mal nix. Auszeit.
Das finde ich sehr sympathisch! Und darum kann ich ihm das wirklich auch glauben, dass alles seine Zeit hat – und ich in Wahrheit nichts versäume. Denn meine Zeit liegt in seinen Händen. Ich lasse sie mir einfach geben. Wie ein Geschenk. Ein schönes, wertvolles Geschenk. Jeden Morgen. Und dann wird man sehn…
Amen.

Autor: Dekan i.R. Volker Herbert