Fliehen – und Ankommen: Reine Ansicht-Sache?

Liebe Gemeinde!
Sehen Sie gut – oder sollten Sie Ihre An-Sichten überprüfen? Von Vor-Urteilen Abstand zu nehmen, ist nicht nur mühsam. An-Sichten zu ändern erzeugt Angst, dass andere uns anders sehen als wir uns selbst. Fremde halten uns den Spiegel vor. „Es ist kein Ansehen der Person.“ An dem Satz bin ich hängen geblieben. Unsere eigenen Sichtweisen können verführerisch selbst-gerecht sein. Eine andere An-Sicht zu lernen, könnte nicht schaden:
(1) Unentschuldbar bist du, o Mensch, der urteilt: Worin nämlich du den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst. Denn das, was du beurteilst, tust du selbst.
„Jeder Mensch ist ein Fremder – fast überall.“ Wenn wir diesen Satz auf uns anwenden, könnte uns klar werden, wie die Situation von Flüchtlingen ist. Ist unser Bild von ihnen, sind unsere An-Sichten ihre Hindernisse? „Schämen sollen sich alle, die den Bildern dienen …“ (Psalm 97, 7)
(2) Wir wissen aber, dass Gottes Urteil wahrhaftig ist über die, die dasselbe tun.
Wessen Bild ist zutreffend? Das Bild, das wir uns selbst von uns machen? „Du machst Dir ein falsches Bild von mir!“ Wirklich? Wer aber vermag eine objektive An-Sicht über uns und andere zu gewinnen? „Meine Augen sehnen sich nach deinem Wort.“ (Psalm 119, 82)
(3) Denkst du aber dies, o Mensch, der du richtest, die solches tun, und tust dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entkommst?
Heraus kommen ohne Schaden, vor den Konsequenzen fliehen. Ein altes Thema. Schon im Paradies: „Adam, wo bist du?“ Der redet sich raus und zeigt auf die Frau. Sie zeigt auf die Schlange. Immer das gleiche mit uns Menschen. Bloß nichts zugeben! Leugnen und Schuld abstreiten bis zuletzt. Auch in Vor-Urteilen im Streit ums Thema‚ Flüchtlinge‘. Geht´s noch?
(4) Oder missachtest du den Reichtum seiner Barmherzigkeit, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass die Freundlichkeit Gottes dich zur Umkehr führt? Was ist der ‚Reichtum‘, der bleibt? „Willst Du Deinem Feind die Ruh’ im Grab verwehren, so schreib auf seinen Stein: ‚Hier ruht Geld!‘“ (Bert Brecht). Eine andere An-Sicht tut not: „In der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung“, lehrt die jüdische Erfahrung (Baal Schem Tov). Sich an die Nach-Sicht anderer mit uns erinnern und an das Verzeihen, lässt uns die Würde wieder finden, die in unsrer An-Sicht abhanden gekommen ist: „Wenn ich sprach: Mein Fuß ist gestrauchelt, so hielt mich, Herr, deine Gnade.“ (Psalm 94, 18)
(5) Aber nach der Verhärtung und deinem unveränderlichen Herzen häufst du selbst Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes.
Die Möglichkeit, die Veränderung zu leugnen, führt zu Verhärtung und Herzens-Verkalkung. Starre An-Sichten richten sich selbst. Unsere Ansichts-Sachen kehren wieder: „Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.“ (Psalm 90, 8)
(6) Der jedem nach seinen Werken vergilt.
Nach den Regeln dieser Welt gilt: „Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es.“ (Erich Kästner)
Wie wir die Dinge und die Welt und den Nächsten an-sehen, so begegnen sie uns.
(9) Bedrängnis und Angst über jede Seele des Menschen, der das Böse bewirkt …
Keine Nach-Sicht zu lernen bleibt fern allem Frieden. „Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie …“ (Psalm 104, 29). Wer Maßstäbe aufstellt, wird an ihnen gemessen. Nach-Sicht einander gegenüber und Ein-Sicht in Veränderung wären zu lernen, neue An-Sichten zu gewinnen über sich und andere: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ (Karl Valentin)
(10) Ruhm und Ehre und Friede jedem, der das Gute bewirkt, Juden zuerst und Griechen.
Respekt als erneuerte An-Sicht einüben, und Frieden erlangen, den WIR NICHT schaffen und in der Nach-Sicht Gottes erfahren: „Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal dafür sterben würde. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen; das wirkt der Heilige Geist im Glauben.“ (Martin Luther)
(11) Denn es ist kein Ansehen vor Gott.
Die starre An-Sicht des Menschen hält am Ende nicht stand. Vielmehr ist Gottes Nach-Sicht zu lernen: „Stellt euch nicht der Welt gleich, sondern lasst eure Wahrnehmung verändern, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12, 2).
Amen.

Quelle: Dr. Roland Pelikan,  Themenheft 2016 „Fliehen und Ankommen“, Evang. Verband Kirche – Wirtschaft – Arbeitswelt, Hannover