Andacht gehalten am Sozialpolitischen Buß- und Bettag 2019 in der Münchner Evangeliumskirche
Geliebte Schwestern und Brüder,
sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
„das Gegenteil von Armut ist nicht Reichtum; das Gegenteil von Armut ist Gerechtigkeit.“
Den ich hier zitiere, der schafft in einem anderen Land öffentliches Bewusstsein für Menschen am Rande. Bryan Stevenson arbeitet seit vielen Jahrzehnten in den USA als Strafverteidiger in Gerichtsverfahren, in denen die Anklage die Todesstrafe fordert.
In der Regel begleitet er dabei Mandanten, zum Teil auch Minderjährige, die in ärmliche Verhältnisse geboren wurden, die in ihrem Leben traumatisiert wurden, die Gewalt, Rassismus, Hunger, Obdachlosigkeit oder Missbrauch erlebt haben.
Sein Einsatz für diese Menschen besteht insbesondere darin, ihre Stimmen hörbar zu machen, ihnen ein Gesicht zu geben, ihre Lebensgeschichten in die Waagschale zu werfen und natürlich dabei immer wieder die Frage aufzuwerfen, ob die Todesstrafe überhaupt für irgendeinen seiner Mandanten ein gerechtes Urteil sein kann.
Ich war diesen Sommer vor Ort in Alabama, dort, wo Bryan Stevensons Organisation beheimatet ist. Dabei ist mir eines noch einmal sehr deutlich geworden: Menschen, die am gesellschaftlichen Rande stehen, die werfen nur durch ihre Präsenz die Frage für eine Gesellschaft auf, was da als gerecht gilt. Diese Frage birgt in der Regel Sprengstoff. Sie fordert nämlich auf, da hinzuschauen, wo es unangenehm und hässlich wird, wo die dunklen, die geradezu dämonischen Seiten eines gesellschaftlichen Konsenses schlummern, da, wo gutes Leben einfach nicht mehr möglich ist, auch weil es verunmöglicht wird.
Es ist schwer und unangenehm, mühselig und traurig, sich mit diesen Seiten zu befassen. Und daher neigen diejenigen, die nicht am Rande stehen, dazu, jene Menschen, die diese Seite durch ihre schiere Präsenz ans Licht bringen, in irgendeiner Weise zum Verschwinden zu bringen. In den USA geschieht dies auch, indem man sie nach geltendem Recht und Gesetz tötet.
Bei uns geschieht das zum Beispiel in der Art und Weise, wie öffentliche Statistiken gepflegt und kommuniziert werden. Es macht eben einen Unterschied, ob man in der Öffentlichkeit von 2,3 Millionen Arbeitslosen spricht, von 3,13 Millionen Menschen, die de facto ohne Arbeit sind, oder gar von 6,5 Millionen Mitbürgern, die von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen leben.
„Das Gegenteil von Armut ist nicht Reichtum; das Gegenteil von Armut ist Gerechtigkeit.“
Gerechtigkeit, so verstehe ich Bryan Stevensons Zitat, fängt damit an, Menschen wahrzunehmen, ihre Stimme zu hören, sich ihre Geschichte erzählen zu lassen, sie eben nicht verschwinden zu lassen.
Dass dieser Ansatz gut biblisch ist, daran sehe ich mich erinnert durch den Wochenspruch am heutigen Buß- und Bettag. Er findet sich im Buch der Sprüche im 14.Kapitel und lautet:
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“
Die Gerechtigkeit, von der hier die Rede ist, ist eine Gerechtigkeit, von der in der ganzen Bibel gesprochen wird. „Zedaka“, so das hebräische Wort, kann man ins Deutsche noch zutreffender übertragen, nämlich mit „Gemeinschaftstreue“.
Gesprochen wird dabei zunächst einmal von Gott. Gott ist „gemeinschaftstreu“, treu nämlich gegenüber seinem Volk, gegenüber den Menschen, die er ins Leben rief, mit denen er einen Bund schloss. Und diese Gemeinschaftstreue erweist sich darin, dass alle Gehör finden vor Gott, damit gutes Leben gelingen kann.
Der zentrale Ort für diese Praxis der Gemeinschaftstreue war in Israel der Jerusalemer Tempel. Dort durften sich alle, Arme wie Reiche, einfinden mit ihren Nöten und Sorgen, ihren Gebeten und Opfern. Wer die Psalmen liest, der kann eintauchen in diese Vielstimmigkeit der Anliegen – und in die Antworten, die Menschen dort am Tempel gegeben wurden, in der Regel eine Mischung aus Verheißung und Rechtsprechung.
„Gemeinschaftstreue erhöht ein Volk.“
Gottes Gemeinschaftstreue erhöht ein Volk dadurch, dass alle, Arme wie Reiche, Schwache wie Starke, vor Gott Gehör finden. Das Gegenteil von Armut ist dann eben nicht Reichtum, weil Armen wie Reichen durch dieses Gehör Gerechtigkeit widerfährt.
Natürlich bestand auch damals in Israel schon die Gefahr, dass bestimmte Menschen im Volk nicht mehr Gehör finden, zum Verschwinden gebracht werden. Daher heißt es im Alten Testament immer wieder, wie etwa im 68. Psalm, dass Gott „ein Vater ist der Waisen und ein Richter der Witwen.“ (Psalm 68,5)
Diese Erfahrung Israels setzt sich mit Jesus und in der Kirche fort. Daher wird auch im Neuen Testament im Gleichnis vom Weltgericht besonders der Hungrigen und Durstigen, der Fremden und Obdachlosen, der Nackten, Kranken und Gefangenen gedacht. Am Umgang mit ihnen entscheidet es sich, wie man dort besteht.
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“, so sagt es der Weltenrichter denen, die diese Geschwister in ihren Nöten im Blick hatten und daher mit Wort und Tat Gemeinschaftstreue zeigten.
Den anderen hingegen, die diese übergangen haben, wird deutlich, dass dieses Übergehen im Widerspruch zum gemeinschaftstreuen Gott steht.
Dies entspricht dem vorhin zitierten Wochenspruch zum Buß- und Bettag, wo es weiter heißt: „Sünde ist der Leute Verderben.“ Sünde ist es, die Gemeinschaftstreue Gottes im eigenen Volk aufzukündigen, indem man Menschen übergeht, sie zum Schweigen, gar zum Verschwinden bringt.
Dies ist wohlgemerkt aller Leute Verderben. Denn Menschen inmitten eines Volkes zum Schweigen, zum Verschwinden zu bringen, verändert eine Gesellschaft.
Wenn einschlägige Prognosen sagen, dass jeder fünfzehnte Amerikaner, sogar jeder dritte Afroamerikaner, der seit der Jahrtausendwende geboren wurde, ins Gefängnis wandern wird, dann macht das etwas mit allen Menschen in einem Land wie den USA.
Wenn Menschen in unseren Armuts- und Arbeitslosenstatistiken verschwinden, wir ihre Geschichten und Erfahrungen nicht kennen, sondern stattdessen vielleicht nur deren mediale Zerrbilder als Sozialschmarotzer, dann macht das etwas mit uns und unserem Land.
Daher ist es gut, dass heute Abend Menschen, die als Langzeiterwerbslose leben, unter uns hörbar geworden sind mit ihren Erfahrungen, Wünschen und Vorschlägen zu einem guten Leben.
Meine Hoffnung ist nun, dass dieser Abend mit seinen Begegnungen einen Beitrag dazu leistet, dass die Gemeinschaftstreue, die ein Volk erhöht, unter uns weiter wachsen kann.
Amen.
Autor: Pfarrer Peter Lysy, kda Bayern