„… meinen Pfad und meine Rast sichtest Du.“

Andacht zu Psalm 139,3 gehalten anlässlich der Tutzing-Tagung 2021 „Gläserne Mitarbeiter?!“

Geliebte Tagungsgemeinde,
jetzt also auch noch der Herrgott. Nicht genug, dass wir von Cookies und Trackern allweil im Netz verfolgt werden, dass unsere Arbeitgeber gewollt oder ungewollt Daten über uns sammeln und auswerten, dass die Clouds der großen IT- Dienste sich vollsaugen mit unseren Livefeeds, dass die Kameras unserer Rechner gehackt werden können, jetzt also auch noch der allgegenwärtige Herrgott.
Es hat ja Tradition. Bevor es den „Big Brother watching you“, gab, gab es schon lange Bilder vom „Big Father“. „Der liebe Gott sieht alles“. So haben es vielleicht einige von Ihnen noch als mehr oder weniger sanften Hinweis in ihrer Erziehung genossen. Das war die Parole des vordigitalen Helikopter- Elterntums, lange bevor dieses Wort erfunden wurde. Jetzt als auch noch der Helikopterherrgott. Helikoptermäßig kommt dieser Gott in den Eingangsversen des 139. Psalms ja auch rüber, wenn es da in dem uns vertrauten Lutherdeutsch heißt:

1 Herr, du erforschest mich
und kennest mich.

2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.

4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wüsstest.

5Von allen Seiten umgibst du mich
 und hältst deine Hand über mir.

Und dass vor diesem Gott kein Entrinnen ist, das macht der Psalmist im Anschluss in diesen Versen deutlich:
7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8 Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9 Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
10 so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein –,
12 so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

Man muss das einmal hören und sich auf der Zunge zergehen lassen, um zu begreifen, dass das Moment eines allgegenwärtigen, allsichtigen Gottes nicht erst in dem „Der liebe Gott sieht alles“ seine Sprache gefunden hat, sondern bereits in den Gebeten der Bibel.
Solch eine unentrinnbare Gegenwart kann Angst machen. Oder sie kann zum Angst machen benutzt werden. Wer vor mir verborgen ist, aber alles über mich weiß, macht Angst.
Eine Angst, welche das digitale Zeitalter mitprägt. Nicht nur wegen der möglichen Gläsernheit unserer Existenz. Auch beim digitalen Tempo können viele nicht mehr mithalten. Und die schöne, neue Welt der Start-ups und Digitalkonzerne findet Kicker und Körbe voller Obst zwar cool, institutionalisierte Mitbestimmung dafür weniger. Angstbearbeitung wäre da doch angesagt, aber doch kein Herrgott, der durch seine Allwissenheit, Allgegenwart und Allsichtigkeit den kleinen Menschen noch mehr in die Enge seiner Ängste zu treiben droht.

Warum also dieses Gebet? Weil es eben Angstbearbeitung ist. Nicht die Angst vor diesem Herrgott jedoch wird bearbeitet, sondern die Angst vor einem Leben, das ohne diesen Herrgott nicht im Guten denkbar wäre für den Beter. Dieser Herrgott schaut nach ihm aus, wo es für ihn unübersichtlich wird, in dieser unübersichtlichen Welt wie auch im unübersichtlichen Treiben seines eigenen Herzens.
So fleht er diesen Herrgott an:
23 Erforsche, Herrgott, mich, kenne mein Herz, prüfe mich,
kenne meine sorgenvollen Gedanken,

24 sieh, ob ich auf einem Weg der Mühsal und des Schmerzes bin,
und leite mich auf dem Weg der Ewigkeit.

Aber warum? Hören wir ihm weiter zu:
13 Du hast meine Nieren bereitet

und hast mich gebildet im Mutterleibe.

14 Ich danke dir dafür,
dass ich wunderbar gemacht bin;

wunderbar sind deine Werke;
das erkennt meine Seele.

15 Es war dir mein Gebein nicht verborgen,
da ich im Verborgenen gemacht wurde,

da ich gebildet wurde unten in der Erde.

16 Deine Augen sahen mich,
da ich noch nicht bereitet war,

und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,

die noch werden sollten und von denen keiner da war.

Wer so betet, auf Du und Du, der ängstigt sich nicht vor diesem Herrgott. Die Allgegenwart und Allsichtigkeit dieses Herrgotts erlebt er nicht als beengend, sondern als intim. Staunend bringt er die Nähe zur Sprache, die zwischen ihm und diesem Herrgott besteht, nicht, weil er sie selbst denn gesucht hätte, sondern weil sie zu seiner DNA als Mensch gehört. Adam, geformt aus der Adama, der Erde, lebendig durch den Ruach, den heiligen Geist des schöpferischen Herrgotts.
Wer so betet, auf Du und Du, der betet mit dem Atem dieses Geistes, selbst wenn es ihm die Stimme verschlägt im Angesicht der unübersichtlichen Welt und des unübersichtlichen Treibens seines Herzens. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. (Röm 8,26) In diesem Seufzen wird die Angst, die beklemmende Enge dieser Welt und dieses Lebens zur Ader gelassen. Neudeutsch: da findet Angstbearbeitung statt.

Passt dies ins digitale Zeitalter? Warum eigentlich nicht? Wer sich mit diesem Herrgott auf Du und Du versteht, dem sollten Datenflut und Datenkraken, die Ungeheuer des digitalen Zeitalters, doch wenig oder zumindest weniger angsteinflößend erscheinen. Nicht dass sie dann zu zähmen oder gar zu besiegen wären. Mit ihren Ambivalenzen werden wir weiterhin zu ringen haben, aber eben in der Zuversicht, dass der, zu dem wir „Du“ sagen, „…meinen Pfad und meine Rast sichtet“. Der Herrgott sichtet das Tun und das Ruhen des Menschen – so stellt der Beter fest und meint mit dem Sichten das Sieben, das Trennen von Spreu und Weizen.
Mögen wir in dieser durchbeteten Zuversicht auf dieses Sichten Gottes in unserem Tun und Ruhen auch heute die Spreu vom Weizen zu trennen üben in der digitalen Arbeitswelt.
Amen.

Autor: Pfarrer Peter Lysy, kda Bayern