Und führe uns in der Versuchung

Dialogpredigt zu Matthäus 4,1-11 anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes zur Internationalen Handwerksmesse in München am 10.3.2019

1. Volker:

Liebe Gemeinde, lieber Michael,
beim Handwerkergottesdienst letztes Jahr war´s Predigen einfacher: da waren wir bei Josef in der Schreinerwerkstatt, als Jesus ihm klar machte, er wolle kein Zimmermann mehr sein. Ähnliches gibt es ja in Handwerkerfamilien bis heute.
Handwerk und Jesus, das kann man irgendwie zusammenkriegen. Handwerk und Versuchung…, also dazu fällt mir erst mal nichts ein. Oder nichts, was ich hier von mir geben möchte. Versuchung hat ja immer so ein Moralin Gschmäckle.

Diesmal sind wir – oder um es genau zu sagen – diesmal treffen wir Jesus laut Predigttext erst in der Wüste, dann auf dem Tempeldach und schließlich auf irgendeinem Berggipfel. Dreimal wird er vom Versucher – so nennt die Bibel die Macht im Hintergrund – wirklich angemacht. Mit provozierenden Fragen wie: Du willst doch jemand sein, schaffst du das? Zum Beispiel aus Steinen Brot machen? Oder: Vertraust Du Gott – oder nicht? Dann spring! Oder: Du kannst alles kriegen, wenn Du nur willst… – und mir dein Herz gibst. Diesen schlimmen Deal gibt es nicht nur auf der Bühne wie bei Dr. Faust oder in Märchen, sondern auch hinter manchen glänzenden, beneideten Karrieren.

Solche Fragen an unser Selbstwertgefühl oder Geltungsbewusstsein sind verführerisch. Sie können zu weitreichenden Fehlentscheidungen und Handlungen führen, verführen. Jesus war damals allein, aber er hat diese Grenzerfahrungen in der Wüste nicht für sich behalten, sonst wüssten wir nichts davon. Für diese Offenheit bin ich ihm dankbar.

Ganz nüchtern und praktisch gesehen ist Versuchung eine persönliche Entscheidungssituation, bei der innere Wünsche und äußere Anreize mit persönlichen Wertvorstellungen in Konflikt geraten: Soll ich, oder soll ich nicht? Darf ich – darf ich nicht? Wir haben die Wahl.

Was war Ihre letzte große Versuchung? Die Steuererklärung? Den faulen Kollegen mal so richtig auflaufen zu lassen, damit er endlich merkt, was er für eine Niete ist? Oder mit der netten neuen Kollegin mal ein Date nach der Arbeit zu machen, wenn ihre Frau gerade bei den Eltern ist? Oder zu überholen, wo man‘s eigentlich nicht darf? Die Versicherung ein wenig anlügen,- oder nicht? Oder so tun, als sei alles in bester Ordnung, obwohl es hinten und vorne nicht mehr stimmt?

Jeder von uns hat da so seine ganz persönlichen Schwachstellen. Mal ist es der Stolz oder ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl. Ein ander Mal ist es Neid und Geiz oder innere Wut. Die Angst zu kurz zu kommen, der Drang nach Macht, der Wunsch die Beste zu sein… – es gibt unzählige Stellen bei uns, wo die Versuchung andocken und unser Denken und Verhalten beeinflussen kann.
Am häufigsten zum Lügen in all seinen Formen: Vom Verschweigen und schön reden bis zu böser Unterstellung und bewußter Falschaussage.

2. Michael:
Ja, liebe Schwestern und Brüder, lieber Volker,
das ist eine Seite der Versuchung. Aber, so frage ich mich, muss Versuchung zwingend einen bitteren Beigeschmack haben und zu Gewissenbissen führen? Macht es das Leben nicht erst spannend und aufregend, wenn ich versucht werde?

Versuchung führt doch dazu, dass ich mich vorsichtig und langsam herantaste an Grenzen. Ist es nicht langweilig, sich immer nur innerhalb der Grenzen zu bewegen, die mir vorgeben sind? Ich muss doch an die Grenze gehen, sie erkunden, sie vielleicht sogar überschreiten, um Neuland zu betreten. Neuland in meiner Erfahrung. Neuland im persönlichen Reifen.

Das können Grenzen meines Könnens oder meiner Fähigkeiten sein. Gelingt es mir innerhalb von acht Stunden nicht nur zwei Aufträge, die mir gestellt sind abzuarbeiten? Oder können es, wenn ich mein Können verbessere, mein Tempo beschleunige, nicht doch drei Aufträge sein? Wäre technische Innovation überhaupt möglich, wenn ich nicht versucht wäre, über das bereits Erreichte hinaus zu gehen?

In der Versuchung taste ich mich vorsichtig an die Grenzen dessen was erlaubt und beliebt ist. Gäbe es überhaupt kulturelle Entwicklung, wenn Künstler nicht immer wieder versucht worden wären, Grenzen der Zensur und des Tabus zu durchbrechen? Es gäbe sicher keine #Me-too-Debatte, wenn es Schauspielerrinnen nicht gewagt hätten, das offen auszusprechen, was alle über Hollywood wussten. Wer sich dort nicht in Versuchung führen lässt, macht keine Karriere.

Tabuthemen, Meinungsgrenzen, also das, was verboten ist. Liegt hier nicht der interessante Reiz der Versuchung, sie zu überschreiten? Und hier kommt mir ein weiterer Gedanke. Wer bestimmt denn die Grenzen? Wer legt Tabus fest?

Einmal angenommen, ich lebe in einem autoritären, diktatorischen System. Meine Aufgabe als Mensch bestände nur darin, diesem System zu dienen, dessen Macht zu sichern und mich dessen Recht und Gesetz zu unterwerfen. Ein Recht etwa, das keine freie Meinungsäußerung kennt. Angenommen, ich erlebe, wie in diesem System meine Mitmenschen ausgenutzt werden, unrecht behandelt werden oder ihnen gar Schlimmeres widerfährt.

Einmal angenommen ich würde auf die Stimme meines Gewissens hören und dagegen aufbegehren. Dieses System würde doch dazu aufrufen, sich nicht von mir in die Versuchung führen zu lassen. Wenn ich hier für Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit einträte, dann wäre ich doch aus der Sicht der Systemlenker und Herrscher einer, der andere Menschen in Versuchung führt, weil ich andere anstifte, kritische Fragen zu stellen oder Widerstand zu leisten.

Es gehört also unbedingt dazu zu fragen, wer setzt die Normen, bestimmt die Regeln, legt die Grenzen fest, die überschritten, übertreten und gebrochen werden müssen, um zu bestimmen, das sei Versuchung.

3. Volker
Ja, es ist gar nicht so einfach unter den vielen Stimmen in unserem Innern und von außen zu erkennen und zu entscheiden: Ist das jetzt eine Versuchung,- und wozu,- und wohin wird mich das führen? Ist das die Stimme meines Gewissens – oder eine hinterhältige Verführung? Sich einfach taub stellen ist keine Lösung.

Unter diesen vielen Stimmen und Einladungen kann es ja auch die Lebensfreude sein, oder die Liebe, die uns ruft und lockt – oder die Stimme der Wahrheit, oder das Gefühl der Mitmenschlichkeit. Zum Beispiel, wenn ich an einer der zahllosen verlumpten Gestalten in der Innenstadt vorbeigehe, die dort mit einem Kaffeebecher sitzt. Und obwohl ich weiß, das ist alles organisiert und professionell, trotzdem ein Geldstück heraushole…

Ja, es kann sogar Gott selbst sein, der uns ruft – wie die Bibel ja immer wieder erzählt – und der uns herausholen, befreien möchte aus dem Gefängnis, in das wir uns mit unserer Einstellung zum Leben, mit dem Egoismus und unseren Ängsten selbst eingesperrt haben. Wie Eugen Drewermann zu dieser Bibelstelle schreibt (Matthäus Evangelium, Erster Teil, Olten.Verlag, S. 533):

„Das ist das einzig wirkliche Böse: der Geist der Angst, der das Werden nicht will, der die Wandlungen des Lebens verweigert und die Verantwortung flieht. Ja, himmlischer Vater, lass uns lieber irren, als niemals dazulernen, lass uns lieber Fehler begehen, als an lauter Richtigkeiten und Artigkeiten zu ersticken, lass uns lieber an fernen Küsten stranden und scheitern, als die Reise ins Unbekannte niemals anzutreten.“

Eine Reise ins Unbekannte war es auch für Jesus, als er, der Zimmermann, von Nazareth zum Jordan hinab ging. Dort rüttelte Johannes, ein frommer Einsiedler, die Menschen mit seiner Predigt vom nahen Gericht Gottes auf und taufte sie im Fluß. Auch Jesus ließ sich taufen. In ihm änderte sich etwas grundlegend. Als er vom Jordan wegging war er kein Zimmermann mehr. Aber was – oder genauer: Wer? – war er dann? Er war ein Mensch, wie alle anderen – und zugleich stand Gott ihm näher als irgendjemand anderes auf der Welt.

Es ist kein Zufall, liebe Gemeinde, dass heute am 1. Sonntag der Passionszeit über diese Bibelstelle gepredigt wird. Am Ende des Weges, der in der Wüste beginnt und in Jerusalem vorläufig endet, steht das Kreuz.

Doch zunächst kommt die Wüste. Mit ihrer Einsamkeit, ihrer Weite. Mit Entbehrung und Gefahren. Es geht ums Überleben. Gedanken und Gefühle, Sehnsüchte und Ängste stellen sich in der Wüste ein, wie an kaum einem anderen Ort.

Jesus fastet, betet, sucht Antwort auf die Fragen: Wer bin ich? Was hat Gott mit mir vor? Hat Gott wirklich gesagt: Du bist mein lieber Sohn… – oder war es eine Fata Morgana, Einbildung?
Und plötzlich ist da noch eine andere Stimme: Wenn Du ihm schon so überaus wichtig bist, dann mache etwas draus! Der Glaube an Gott muß doch auch zu etwas gut sein im Leben…
Steht nicht in der Bibel, wir sollen ihn um alles bitten und er wird uns erhören? Schnell ein Stoßgebet zum Himmel, ein paar Vater Unser…, ein Opfer – liebe Gemeinde, auch unser Glaube kennt solche Erwartungen, die manchmal Fallen sind: Fallen des Hungers nach Anerkennung, nach Macht oder Überlegenheit.
Auch Bibelworte können solche Fallen sein, wenn wir damit mehr und anderes aus unserem Glauben, ja aus Gott, heraus-holen wollen als drin ist.

Am stärksten und gefährlichsten sind geistliche Versuchungen, wie Jesus sie durchlebt: Mache aus Steinen Brot, die Hungernden der Welt werden sich freuen und Dir ewig dankbar sein! Wenn einer das könnte, würde man ihm nicht alles glauben?

Jesus verzichtet darauf. Denn „der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Stattdessen erinnert er uns daran, was wirklich den Glauben an Gott ausmacht: Nicht, was wir können, sondern dass wir erkennen, wer wir in Gottes Augen sind. Es geht um unsere Beziehung zu ihm. Um ein lebenslanges miteinander Gehen durch Gezeiten des Glücks und der Not, durch Gewissheit und Zweifel, durch Geborgenheit und Einsamkeit. Mit ihm an unserer Seite, ja in uns. Und unsere Verbindung mit ihm entsteht und lebt davon, dass er uns anredet durch Worte, Menschen, durch Zeichen, Erfahrungen, Klänge, die durch seinen Geist geheiligt sind, so dass wir spüren und erleben: Er meint mich. Und unsere Taufe ist der Anfang.

Auch Martin Luther kannte die geistlichen Versuchungen, wie sie sowohl in der Einsamkeit auftauchen als auch beim öffent-lichen Auftreten gegenüber Fürsten, Feinden und vor Glaubens-genossen. Und er hat in seiner Not nicht nur einmal gedacht, gesagt, ja herausgeschrien: Baptizatus sum, ich bin getauft! Und es half.

4. Michael
Ja, die Versuchung ist wie eine Stimme, die mich ruft. Am Anfang ist es die Stimme der Schlange, die Eva anspricht, sie fordert auf, von der Frucht zu essen. Von der Frucht, von der nirgends steht, dass es ein Apfel sei. Diese rote wunderbare Frucht, die auch auf dem Flyer der Einladung zum heutigen Gottesdienst einem mitten ins Auge springt.

Die rote Frucht spricht mich wortwörtlich an. Sie bringt in mir etwas zum Schwingen. Ich bin gefordert, hier zu antworten, irgendetwas zu entgegen. Welche Stimme spricht da, ist es eine Stimme, die es gut meint mit mir? Oder ist es eine, die nur ihre Interessen im Schilde führt? Oder ist es gar des Wolfes kreidige Stimme, die sich schelmenhaft schmeichelnd mir nähert?

Ja, ich muss antworten. Ich muss mich entscheiden. Die rote Frucht der Versuchung sie hat für mich eine doppelte Funktion: Zum einen sagt sie mir: Stopp bis hierher und nicht weiter. Sie zeigt darauf, dass ich übermütig werde, dass ich gar einer Hybris des „Alles-ist-machbar“ unterlegen bin.

Die Warnung vor dieser Hybris des „Alles-ist-machbar“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel etwa im Turmbau zu Babel, wo der Mensch versucht ist, den Himmel erreichen. Im Evangelium beleuchtet sie die Hybris, des Menschen alles selber schaffen zu wollen. Wenn der Mensch den Stein zum Brot macht, dann lebt nur noch von dem, was er selbst geleistet hat. Der Teufel, dem er sich unterwirft, ist sein Geschöpf, sein Götze ein Erzeugnis menschlicher Macht und des Geldes.

Zum anderen leuchtet die rote Frucht gleich wie ein Warnsignal auf: Mach etwas, lass nicht zu, dass etwas geschieht. Denn nicht nur im Tun liegt Versuchung. Versuchung heißt auch: Ich tue nichts. Ich sitze etwas aus. „Böses tun und Gutes unterlassen“, das sind zwei Seiten einer Medaille.
Es ist Sünde, wenn ich nichts dagegen tue, dass Menschen zuschanden kommen. Wichtige Debatten darf ich nicht aussitzen und darauf hoffen, dass löst sich schon von selber. Auf Konflikte darf ich nicht sofort den Deckel draufpacken. Lass es lieber köcheln, es könnte ein Streit überkochen. Wie schön ist es doch, wenn wir in Einheit miteinander leben, immer dieselbe Meinung haben.

Versuchung ist einerseits Grenze des Machbaren und andererseits Aktvierungsenergie, Schwieriges, Unangenehmes anzugehen und anzupacken. Versuchung reißt uns fort von diesem vermeintlich gemütlich kuscheligen Kanapee falscher verstandener Einheit und Gemeinschaft.

„Herr! Führe uns in der Versuchung!“

Wer geführt werden will, muss zuerst einmal stehen. Wenn ich nicht stehe, wenn ich keinen Standpunkt habe, wenn ich nicht den Mut habe meine Meinung zu artikulieren und dafür auch gerade zu stehen, dann stehe ich nicht. Wer nicht steht, kann nicht geführt werden. Ja, ich bin getauft. Als Christ stehe ich damit in der Gemeinschaft mit Christus. Er hat in beiden Versuchungen nur einer Stimme gefolgt. Er ist nicht der Stimme des Versuchers in der Wüste gefolgt. Bis zum Kreuz folgte er nicht den Stimmen der Menschen, die bloß Wunder der Macht sehen wollen. Er ist der Stimme seines Vaters gefolgt: Du bist mein geliebter Sohn.

Doch dieser Stimme konnte Jesus nur folgen, weil er sich mit seinem Vater auseinandergesetzt hat. Er hat mit ihm gerungen. Die Tage in der Wüste waren bestimmt keine karnevalesken Kommunikationsübungen. Sein Vater war für ihn, so verstehen ich es jedenfalls, eine Art „Sparringpartner“. Mit Gott sprechen, mit ihm ringen, wie mit einem Freund. Gott führt mich, so bin ich mir sicher, in meiner Versuchung, wenn ich offen und ehrlich mit ihm ringe, wenn ich die beiden Pole zwischen Grenzüberschreitung und Mangelnder Hilfeleistung mit ihm offen durchspiele.

Die Versuchung ist der Lackmustest menschlichen Lebens. Bin ich als Mensch wirklich gereift, habe ich den Mut besessen, Leben zu wagen, brachte ich das Vertrauen auf, unbequeme Wege zu gehen? Habe ich mich den verschiedenen Kräften und Einflüssen, die mich rufen, gestellt?

Wie ein Glaube, der genau darauf basiert, verstanden werden kann, formulierte Dietrich Bonhoeffer 1943 in einem Bekenntnis:

„Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.“

Liebe Schwestern und Brüder,
solch ein Glaube, der in der Versuchung reift, nimmt mir die Angst vor der Versuchung selbst. Solch ein Glaube lässt mich mutig wagen, mein Leben gemeinsam mit Gott zu gestalten.

Amen.

Autoren: Dekan i.R. Volker Herbert, Vorsitzender des Evangelischen Handwerker-Vereins von 1848 e.V. und Diakon Michael Wagner, Diözesanpräses KAB München und Freising e.V.