Von Gutmenschen und Gnade

Predigt zu Lukas 18,9-14 gehalten anlässlich der Tutzing-Tagung 2019 zum Thema „Management der Moral“

9 Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner.
12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Geliebte Gemeinde,
die Empörung, die dieses Gleichnis bei seinen ursprünglichen Hörern wahrscheinlich hervorgerufen hat, lässt sich vielleicht heute nur nachvollziehen, wenn man die beiden Gestalten des Gleichnisses in heutige Verhältnisse überträgt.
Wenn man also den Pharisäer gleichsetzen würde mit einer Person, die mit dem Rad zur Arbeit fährt, sich vegan ernährt, in den Urlaub mit der Bahn fährt, kurzum: alles tut, um seinen ökologischen Fußabdruck zu minimieren, um seinen notwendigen Beitrag zu leisten, die Erde vor dem Klimakollaps zu bewahren. Dazu auch sein Geld und seine Zeit einsetzt, um anderen zu helfen, z.B. einer Flüchtlingsfamilie aus Syrien oder einem SOS-Patenkind aus Mozambique.
Und wenn man daneben im Zöllner einen Manager sehen würde, dem es nur um Profitmaximierung geht, der daher als Manager so handelt, dass er gesetzliche Spielräume ausreizt, Gesetzeslücken nützt, sich im rechtlichen Graubereich, vielleicht sogar darüber hinaus bewegt, dabei den möglichen finanziellen Kollateralschaden einkalkulierend, der vielleicht sogar durch Lobbyarbeit Einfluss nimmt auf die Gestaltung von Gesetzen, so dass sie seinen Interessen nützen – und dem dabei das öffentliche Wohl am gepuderten Hintern vorbeigeht.

Über so einen also spricht Jesus: „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.“ Verkehrte Welt? Oder hat da einer Jesus einfach falsch zitiert? Kann man für so einen nicht eher schlicht nur Verachtung übrig haben, so wie eben die durch Jesus angesprochenen Frommen nur Verachtung übrig hatten für die anderen, die Zöllner, Räuber, Ungerechten und Ehebrecher?

Ironischerweise geht es heutzutage auch andersherum. Klimaschützende Flüchtlingshelfer haben auch nicht überall den besten Stand. Das Wort von den „Gutmenschen“ etwa drückt auch eine gehörige Portion Verachtung aus für all jene, die scheinbar permanent mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend laufen und einem durch ihr demonstrativ richtiges Verhalten den Alltag versauen wollen. Aber mit mir nicht! Da bin ich lieber – ja was?

So markieren der Pharisäer und der Zöllner in ihrem Gegenüber eine gesellschaftliche Spaltung, die sich durch gegenseitige Verachtung speist. Am Ende befinden sie sich in Echoräumen mit Gleichgesinnten, in denen sie sich nur selbst bestätigen. Dabei sehen sie keine Notwendigkeit, sich aus diesen Räumen herauszubewegen, denn „die anderen sind einfach doof, mit denen kann man nicht, das wissen wir doch“.

Umso interessanter also, dass Jesus die beiden im Tempel zusammenführt, das heißt, vor Gott im Gebet.
Was ist da möglich? Was kann da passieren? Zunächst einmal das zu Erwartende. Der Pharisäer grenzt sich in seinem Gebet ab. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner.“ Sympathisch macht ihn das auf den ersten Blick nicht.
Auf den zweiten Blick jedoch könnten wir wahrnehmen, dass dieser Pharisäer sich müht, einfach das Richtige zu tun. Ist das denn so falsch?
Geht er nicht die Extrameile, die andere nicht gehen, wenn er freiwillig fastet für andere, die das nicht taten, damit diese, nicht er, auf jeden Fall mit Gott versöhnt leben könnten?
Und wenn er den Zehnten selbst auf das gibt, was andere in der Produktionskette schon verzehnten sollten, aber vielleicht nicht taten, um sicher zu gehen, dass der Zehnte als Dank an Gott für alle guten Gaben auf jeden Fall gegeben ist?
Und dankte er Gott nicht dafür, dass er befähigt ist, die Gebote zu halten, und er damit eben ein Leben zu leben imstande ist, dass nicht anderen schadet wie das eine Räubers, Betrügers oder Ehebrechers, sondern anderen dient?
Nicht Selbstüberhebung zeigt sich da auf den zweiten Blick beim Pharisäer, sondern echtes Bemühen um und Dankbarkeit für ein gutes Leben im Dienst der Gemeinschaft. Das sollten wir nicht einfach wegwischen mit einem „Gutmenschenurteil“, sondern einfach mal auf uns wirken lassen.

Auf den Zöllner jedenfalls wirkte dies. „Gott, sei mir Sünder gnädig!“, bricht es aus ihm heraus. Wohlgemerkt, es sind nicht seine eigenen Worte, die er da spricht, sondern fremde Worte, die er sich aneignet, Worte, die wir selbst soeben erst gesprochen haben. Der Zöllner zitiert den 51. Psalm und damit die dahinterstehende Geschichte dieses Psalms.
Viele von uns kennen sie. Es ist die Geschichte des Königs David, als er selbst zum Räuber, Betrüger und Ehebrecher wird, also all das, wofür der Pharisäer so inbrünstig dankt, nicht zu sein. König David, der beim Anblick der schönen Bathseba zum Ehebrecher wird, der diese Bathseba verführt und schwängert, der dann, um diesen Ehebruch zu kaschieren, ihren Mann Uria zunächst zum Geschlechtsverkehr mit seiner eigenen Frau manipulieren will und, als dies misslingt, ihn in vorderste Front schickt gegen die Philister, wohlwissend, dass er dort fällt.
König David, der Räuber, Betrüger und Ehebrecher. Als ihm der Prophet Nathan zur schmerzhaften Selbsterkenntnis verhilft, bricht es aus ihm hervor: “Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Eine Selbsterkenntnis, die sich der Zöllner nun auch aneignet – offensichtlich im Angesicht des frommen Pharisäers, der nach Recht und Gesetz demütig, das heißt: im Dienst der Gemeinschaft handelt. Vor solch einem Menschen wird dem Zöllner deutlich, wie fehl er selbst geht – so sehr, dass ihm sogar eigene Worte fehlen und er dies nur mit den Worten eines anderen auszudrücken imstande ist.

Selbstverständlich ist solch eine Reaktion nicht. Ein so hervorragendes moralisches Vorbild kann einen erdrücken, so sehr, dass man ihm aus Trotz gerade nicht nacheifert, sondern bei ihm das Haar in der Suppe sucht, ein verwerfliches Motiv, das hinter seinem ach so guten Handeln verborgen ist.
Und dann, dann kann man es ihm eben mit eigener Verachtung heimzahlen, die der nur verdient, der einem sein Fehlgehen vor Augen führt. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Verachtung um Verachtung.
Dem Pharisäer ist dies in unserer evangelischen Tradition nur zu oft widerfahren. Seine guten Taten verschwanden hinter dem Urteil, der Pharisäer tue dies doch nur zur Selbstüberhebung gegenüber anderen und aus Motiven der Werkgerechtigkeit, um vor Gott nur selbst gut da zu stehen.

Eugen Roth hat zu dieser prägenden Auslegung folgendes bedenkenswerte Gedicht geschrieben:
Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, daß er kein Zöllner sei.
Gottlob, sprach er in eitlem Sinn,
daß ich kein Pharisäer bin.

Wie sehr diese Spur der Auslegung danebengeht, bringt der Dichter schön auf den Punkt. Wie aber dann? Wie kann Jesus vom Zöllner sagen, „dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus.“? Was hat er denn dafür getan?
Nichts – und das ist das Bemerkenswerte. Was können wir denn schon tun, dass wir unsere Existenz auf Erden rechtfertigen könnten, dass uns das Recht zusteht, Mensch zu sein? „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Dieser Gebetsruf aus dem Psalm Davids drückt im Kern aus, was uns allen, ob Zöllner oder Pharisäer, ob Manager oder Gutmensch, zu eigen ist: das Recht auf Leben ist uns allen miteinander geschenkt, es ist Gnade, nichts als Gnade. Und das vor allem unserem Tun, vor unserem rechten Handeln und vor unserem unrechtem Scheitern. Mit diesem Ruf nach Gnade erkennt der Zöllner dies – und wird erhört.

„Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Diesen Ruf kennt, wer evangelische Gottesdienste besucht, wer im Confiteor, im Vorbereitungsgebet zum Eingang des Gottesdienstes dieses Wort hört und darauf antwortet: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unser Sünde und führe uns zum ewigen Leben.“
Und der dann hört: „Der barmherzige Gott hat sich unser erbarmt. Jesus Christus ist für uns gestorben. Durch ihn vergibt uns Gott und macht uns zu seinen Kindern. Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden. Das gebe Gott uns allen.“
Der Mensch vor Gott, einer, der aus sich heraus nicht zu leben imstande ist, der sein Recht auf Leben tagtäglich als Gnade empfängt.
Und das nun gilt für beide, den rechtschaffenen Pharisäer, dem Jesus mitgibt, nicht irgendwann doch zu glauben, dass er sich eigentlich sein Leben schon selbst verdient hat, weil er ja, anders als andere, etwas Gutes daraus gemacht hat, wirklich etwas geleistet hat – und auch dem Zöllner, der, so hofft man es ja, als Gerechtfertigter eben nicht mehr in alte Muster verfällt, indem er andere übervorteilt und Gesetze nur gelten lässt, wenn sie ihm zunutze sind.
Wenn beide so Jesu Worte zu hören imstande sind, dann kann man nun eines hoffen: dass sie sich in gegenseitiger Achtung darüber verständigen, wie sie miteinander und mit all den anderen, die dies hören, das ihnen gegebene Leben gedenken zu feiern und zu ehren – und damit den Gott, der ihnen dieses Leben miteinander tagtäglich in seiner großen Gnade einfach schenkt.
Amen.

Autor: Pfarrer Peter Lysy, kda Bayern