Wo sind die Grenzen der Arbeit?
Nach zwei Jahren im virtuellen Raum konnte die traditionelle Kooperationstagung der Evangelischen Akademie Tutzing, des ISF München und des kda Bayern am 19. und 20. Mai 2022 wieder in Präsenz bzw. in hybrider Form stattfinden. Unter dem Titel „An der Grenze – neue betriebliche Arrangements an der Schnittstelle von Arbeit und Leben“ diskutierten Expert*innen aus Unternehmen, Wissenschaft und Politik im Schloss Tutzing am Starnberger See.
Wie wollen wir künftig arbeiten? Im Takt der Stechuhr, in klar abgegrenzten Zeiten und Räumen? Oder mobil, flexibel und verschränkt mit anderen Lebensorten und Lebensbereichen? Diese Fragen stellen sich gerade viele Menschen und auch Verantwortliche von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite in den Betrieben – besonders nach der kollektiven Homeoffice-Erfahrung der Pandemie.
Tatsächlich könnten sich die Grenzen von Erwerbs- und Privatleben bald verschieben, wie kda-Referent Philip Büttner in seiner Einführung ins Tagungsthema zeigte. So solle laut Koalitionsvertrag im Arbeitszeitgesetz durch Experimentierklauseln eine neue Flexibilität Einzug halten; der Homeoffice-Wunsch von Beschäftigten solle von Arbeitgeber*innen nicht mehr so leicht zurückgewiesen werden können; grenzüberschreitende Mobilarbeit solle künftig EU-weit unproblematisch funktionieren. Allerdings harrten diese Vorhaben der aktuellen „Ampel-Regierung“ derzeit noch der Umsetzung.
„Work-Life-Balance heißt nicht elf Stunden Mindestruhezeit”
Wie praxistaugliche Lösungen genau aussehen könnten, darüber diskutierten und stritten in Tutzing die beiden bayerischen Landtagsabgeordneten Julika Sandt (FDP) und Eva Lettenbauer (Bündnis 90 / Die Grünen) sowie der neue DGB-Landesvorsitzende Bernhard Stiedl und – online zugeschaltet – Stephanie Renda, Mitglied des Vorstands des Bundesverbandes Deutsche Startups.
Ein besonderer Streitpunkt dabei: das Arbeitszeitrecht. Man könne nicht mit ein und demselben Arbeitszeitgesetz die Bedürfnisse aller abdecken, argumentierte Julika Sandt, Sprecherin für Arbeits- und Sozialpolitik der FDP-Fraktion im Bay. Landtag. Wer beispielsweise in einer Schlachtfabrik arbeite, brauche andere Regeln als jemand, der in der Arbeit mehr Erfüllung und Mitgestaltung finden könne. Letzterer bräuchte schlicht mehr Flexibilität. „Work-Life-Balance heißt dann eben nicht: zehn Stunden Maximalarbeitszeit und elf Stunden Mindestruhezeit“, sagte Sandt. Sie plädierte dafür, anstelle des im Arbeitszeitgesetz festgelegten täglichen Zeitrahmens zu einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu wechseln, um mehr Freiheit für Beschäftigte und Unternehmen zu schaffen.
Gewerkschaften wollen Flexibilität, aber „sauber geregelt“
Die Gegenposition dazu nahm Gewerkschaftschef Bernhard Stiedl ein: „Schauen wir doch mal ins Arbeitszeitgesetz rein! Dann zeigen Sie mir mal irgendeine Regelung, die uns behindert, flexible Arbeitszeitregelungen umzusetzen.“ Er kenne keinen Tarifvertrag und keine Betriebsvereinbarung, die starr eine Arbeitszeit für alle Beschäftigungsgruppen im Betrieb vorgebe. Wo Arbeitszeiten getaktet seien, da läge es am Arbeitgeber. Die Gewerkschaften träten für mehr Flexibilität ein. „Wir wollen aber auch, dass es sauber geregelt wird. Wir wollen, dass die Menschen einen Rechtsanspruch auf bestimmte Regelungen haben und deren Einhaltung nicht als Bittsteller einfordern müssen“, erklärte der im Januar gewählte neue Vorsitzende des DGB Bayern.
Eva Lettenbauer, arbeitspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, teilte Stiedls Einschätzung, dass im Arbeitszeitrecht bereits viel Flexibilität stecke. Sie sah zugleich eine Abschaffung der Mindestruhezeit kritisch, die zur Überlastung führe, wenn etwa in der Gastronomie eine Servicekraft, die bis spät am Abend bediene, am nächsten Morgen schon wieder arbeiten müsse. Lettenbauer hob andere Reformbedarfe hervor, etwa bei der Familienfreundlichkeit von Unternehmen, die in Bayern zwar breit zertifiziert würde, aber mit zu laschen Kriterien. In ihren Augen sollten zudem die Selbstständigen etwa im Handwerk nicht vergessen werden, „die unser Land am Laufen halten“. Für Selbstständige gebe es keinen Schutz und keine Elternzeiten.
Atmende Lebensläufe und Zahnpastatuben
Aus Sicht der Startup-Unternehmerin Stephanie Renda wiederum könnten sich Unternehmen Familienunfreundlichkeit angesichts des wachsenden Fachkräftemangels gar nicht mehr leisten, da sie ihre Mitarbeitenden ja halten wollten. Das typische Bild von Startup-Firmen, in denen die Beschäftigten nachts um zwei Uhr über ihrer Pizza zusammenbrechen, entspreche nicht der Realität. „Ausbeutung wird man nie ganz verhindern können, durch welche Regelungen auch immer“, so Renda. „Aber das Problem wird sich ausmendeln durch den Fachkräftemangel.“ Renda kritisierte zugleich, dass die ganze Podiumsdiskussion aus ihrer Sicht an den entscheidenden Fragen vorbeiginge: „Arbeiten wir jetzt 30, 32 oder 38 Stunden? Das sind alles Themen, die sind wie ‚Zahnpastatuben‘ gemessen an Themen wie der demografischen oder technologischen Entwicklung und dem zunehmenden Fachkräftemangel. Wir beschäftigen uns mit Zahnpastatuben und unten bricht uns der Boden weg, auf dem wir stehen.“
Mehrheitliche Zustimmung fand in der Runde das Modell der „Atmenden Lebensläufe“, welches die Arbeits- und Familiensoziologin Dr. Karin Jurczyk im Rahmen der Tagung vorstellte. Das von Jurczyk mitentwickelte Konzept betrachtet das Verhältnis der verschiedenen Lebensbereiche entlang von Biografien. Es sieht konkret insgesamt acht Jahre monetär abgesicherte „Optionszeiten“ für Kindererziehung und Angehörigenpflege (6 Jahre), für Weiterbildung (2 Jahre) und für die Selbstsorge (1 Jahr) vor, welche Berufstätige beiderlei Geschlechts über ihren ganzen Lebenslauf hinweg in Anspruch nehmen können. Dies würde per Rechtsanspruch auch gesetzlich verbrieft.
KinderZeit Plus und Midlife-BAföG
Eva Lettenbauer brachte den Atmenden Lebensläufen „große Sympathie“ entgegen und verwies auf das politische Programm der Grünen, das bereits Konzepte für eine „KinderZeit Plus“, für Pflegezeiten und Bildungszeiten enthalte. Auch Julika Sandt unterstützte den Gedanken und brachte das FDP-Modell des „Midlife-BAföG“ ins Spiel, eines steuerlich begünstigten Bildungssparens, das bei Geringverdiener*innen auch staatlich bezuschusst würde. Sandt betonte, dass Atmende Lebensläufe nicht bedeuteten, dass Menschen beruflich nicht weiterkommen wollten. „Gerade mit Blick auf die Frauen, die oft ihre Arbeitszeit auf Kosten von Aufstiegsmöglichkeiten reduzieren, gilt es nicht nur Pflege und Beruf zu vereinbaren, sondern auch Pflege und Karriere“, so Sandt.
Während Unternehmerin Stephanie Renda Atmende Lebensläufe angesichts schwindender Wertschöpfung als „Luxusattribut“ betrachtete, sah Gewerkschafter Bernhard Stiedl sie durch tarifvertraglich geregelte Lebensarbeitszeitkonten in der Praxis teilweise schon umgesetzt. Der DGB-Chef gab den Teilnehmenden der Tagung noch einen Rat: „Wenn Sie einmal auf dem Sterbebett liegen, werden Sie nicht denken: ‚Ach, hätte ich damals noch die Sonderschicht am Samstag gefahren.‘ Sie werden denken: ‚Ach, wäre ich doch bei meiner Tochter gewesen, als sie das Theaterstück aufgeführt hat.‘“
Politische Ideen treffen auf die betriebliche Praxis
Die Ideen aus Politik, Gewerkschaft und Arbeitgeberverband trafen in Tutzing auf das Erfahrungswissen der Praktiker*innen aus den Betrieben. Dr. Peter Cammerer, langjähriger Betriebsrat der BMW AG am Standort München, und Oliver Trost, Personalratsvorsitzender der DAK-Gesundheit in Hamburg, stellten aus Arbeitsnehmersicht konkrete betriebliche Regelungen zum mobilen Arbeiten und zum Homeoffice vor. In den Blick gerieten dabei diverse Umsetzungsfragen wie die Arbeitszeiterfassung, die Erreichbarkeit oder die Auswirkungen auf die Gruppendynamik zwischen den Mitarbeitenden.
Aus Unternehmersicht diskutierten auf einem weiteren Podium Thomas Popp, Gründer und Geschäftsführer der Q²Factory, Matthias Quapil, Workplace Health Manager bei Microsoft Deutschland und Dr. Dorothea von Wichert-Nick, Gründerin der Beratungsfirma volate. Sie gaben anschauliche Beispiele dafür wie Arbeit als „selbstbestimmtes Arrangement“ verstanden werden kann. Letztlich sei es wie bei einer „Jazzband“ (Wichert-Nick), in der es einen verbindenden Rhythmus in Form von Betriebsvereinbarungen geben müsse, aber auch mitreißende Soli in Form von individuellen Freiräumen.
Mobiles Arbeiten im Coworking Space
Hans-Peter Sander, bayerischer Landeskoordinator von CoWorkLand, einer bundesweiten Genossenschaft, stellte das große Potenzial vor, das mobiles Arbeiten nicht nur im Homeoffice, sondern auch im Coworking Space haben kann. Die Etablierung von kreativen Bürogemeinschaften in ländlichen Räumen könne Lösungen für die Arbeitswelt, aber auch für viele Verkehrs- und Umweltprobleme bieten (mehr dazu im „Rotunde-Blog”.)
Die juristischen Möglichkeiten und Grenzen mobiler Arbeit zeigte Rechtsanwalt Felix Bußmann auf. Sein Vortrag streifte Themen wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Übernahme von Ausstattungskosten und den Gesundheitsschutz im Homeoffice. Bußmann machte dabei allerdings deutlich, dass viele der drängenden Fragen noch einer klaren Regelung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung benötigten.
Wie eine ideale Regelung auf betrieblicher Ebene aussehen könnte, erarbeiteten die Teilnehmer*innen der Tagung auf Basis ihrer eigenen betrieblichen Erfahrungen und Kompetenzen schließlich selbst im Rahmen eines „Workcafés“. Eine Auswahl der Vorschläge für eine „Betriebsvereinbarung New Work“ wurden auf Pinnwänden präsentiert.
Jenseits der betrieblichen Praxis weitete der Theologe und Ethiker Prof. Dr. Torsten Meireis bei der Tagung den Blick auf das Thema Arbeit unter dem Titel “Beruf und Berufung”. Sie könne im christlichen Sinne als Berufung und als tätiger Dienst am Nächsten viel mehr sein als nur Erwerbsarbeit. Weit wurde der Blick auch bei der Andacht zur Tagung von kda-Pfarrer Peter Lysy am Ufer des Starnberger Sees: „Wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, in seinen kurzen und eitlen Tagen?“ (Prediger 6,12).