Sehende Augen

2024 ist der 35. Jahrestag des Mauerfalls. Auf den ersten Blick ist nach 34 Jahren die Deutsche Einheit ganz selbstverständlich. Viele haben nach dem Mauerfall das Zusammenwachsen des geteilten Deutschlands nach besten Kräften und Möglichkeiten unterstützt. Dazu gehörte die evangelische Arbeitnehmerbewegung in Bayern (afa) und der kda. Zum Beispiel wurden, mit Unterstützung aus Bayern, Betriebsräte in Thüringen aufgebaut. Ost/West-Begegnungs-Treffen von ArbeitnehmerInnen förderten gegenseitiges Verständnis. Hier galt die Botschaft eines modernen Kirchen-Liedes: „Herr, gib uns Augen, die den Nachbarn sehen, Ohren, die ihn hören und auch verstehen“ (EG 649).

Ich glaube dieser Zugang ist zum 34. Tag der Deutschen Einheit nach wie vor aktuell. Allein der Blick auf die aktuellen Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern ist zu kurzsichtig. Wir brauchen weiterhin den Blick für die Menschen, für die unterbrochenen Berufsbiographien, für das Wegbrechen tausender Arbeitsplätze nach der Wiedervereinigung und dem Verlust ganzer Berufsbilder. Gerade viele Menschen im bayerisch-thüringischen Grenzgebiet haben weiterhin ihren Lebensmittelpunkt in Thüringen, pendeln aber zur Erwerbsarbeit nach Bayern.

Gerade die grenznahen Gebiete in Unter- und Oberfranken sind nach wie vor die Regionen mit der höchsten Industriedichte in Deutschland. Durch die aktuellen Krisen, z.B. in der Automobil-Industrie und im Energie-Bereich, verlieren gerade viele Menschen in den genannten Regionen ihren sicher geglaubten Arbeitsplatz.

Das Lied: „Herr, gib uns Augen, die den Nachbarn sehen…“ ermutigt uns, weiter die Lebens- und Arbeitssituation der Menschen in Ost-Deutschland in sachlicher, differenzierter und wertschätzender Weise wahrzunehmen. Selbst nach 34 Jahren Deutscher Einheit gibt es erhebliche Unterschiede in Entlohnung und Rente. Die Tarifbindung ist niedrig, prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind weit verbreitet.

Für mich ist es ermutigend, dass die evangelische Arbeitnehmer-Bewegung in Zusammenarbeit mit dem kda weiterhin den hörenden und verständnisvollen Austausch mit ArbeitnehmerInnen aus Ostdeutschland pflegen. Jesus zeigt uns hier den Weg. Wir brauchen diese Brücken zum Nachbarn. Wir brauchen diese Brücken zwischen den Menschen. Sie sind die wesentliche Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Osten wie im Westen.

Klaus Hubert, Diakon, afa-Geschäftsführer, Regionalstelle Schweinfurt

Bild von lecreusois / Fabien auf Pixabay

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