Bayern will Sonntags-Supermärkte erlauben

Im Freistaat soll nach Willen der Staatsregierung bald ein neues Ladenschlussrecht gelten. Während in den Medien nur von einem „Reförmchen“ die Rede ist, wird eine folgenreiche Neuerung kaum beachtet: Für kleine Supermärkte mit automatisierter Kasse soll der Ladenschluss völlig abgeschafft werden. Die neuen Smart Stores könnten mit diesem Konkurrenzvorteil bald in Stadt und Land aus dem Boden schießen, Arbeitsplätze kosten und den Sonntag in Bayern zum Shoppingtag machen.

Sonntagsarbeit im „personallosen“ Supermarkt

Ein Sonntagsbesuch in einem der ersten „Digitalen Kleinstsupermärkte“ Bayerns: Wer hätte gedacht, dass die smarte Zukunft des bayerischen Einzelhandels im Gewerbegebiet eines oberfränkischen 2000-Seelen-Ortes beginnt? Der Handelskonzern Rewe hat hier einen Container mit etwa 40 Quadratmetern Verkaufsfläche hingestellt, der „ohne Personal betrieben“ werde, dafür aber rund um die Uhr, auch sonntags. Das digitale Kauferlebnis beginnt beim Eintreten (man muss seine Bankkarte einlesen) und endet mit dem Bezahlen (man zieht seine Ware selbst über den Scanner). Dazwischen ist alles recht analog. Es gibt keine Roboter und keine KI, auch keine intelligenten Einkaufskörbe, nur etwa 700 gängige Supermarktprodukte von der Bio-Zucchini, über Waschmittel bis hin zum Hundefutter, alles zu normalen Preisen wie an Werktagen.

Und auch das ist überraschenderweise wie am Werktag: Man trifft an diesem Sonntagnachmittag auf eine Mitarbeiterin. Sie scannt gerade mit einem Handy die Waren im Kühlregal.

„Arbeiten Sie hier am Sonntag?“ lautet die naheliegende Frage. „Ja“, antwortet die junge Frau etwas verlegen.

Eigentlich müssten Smart Stores sonntags schließen, in der Praxis öffnen sie alle

Der kleine Supermarkt in Oberfranken ging 2022 durch die Presse, da eine Zeit lang nicht sicher war, ob er sonntags öffnen dürfe oder nicht. Der Betreiber forderte dies, doch die Bayerische Staatsregierung hatte den Sonntagsbetrieb Digitaler Kleinstsupermärkte untersagt. Auch eine feiertagsrechtliche Befreiung solcher Märkte käme grundsätzlich nicht in Betracht, schrieb das Bayerische Arbeitsministerium noch in seinen Vollzugshinweisen von 2021 (Az. I5/6131-1/411). Später hieß es dann allerdings, in „atypischen“ Einzelfällen könnten Gemeinden doch Sondergenehmigungen für den Sonntagsbetrieb erteilen.

Eben das tat die Gemeinde in Oberfranken und mit ihr alle anderen bayerischen Kommunen, in denen sich Smart Stores ansiedelten. Einige Dutzend solcher Supermärkte – zum Beispiel von „Tante M“, „Teo“ (Tegut), Tante Enso“ oder „Nahkauf Box“ (Rewe) – gibt es inzwischen im Freistaat, meist in ländlichen Gebieten. Als teilautomatisierte, begehbare „Walk-in-Stores“ sind sie feiertagsrechtlich von reinen Warenautomaten ebenso zu unterscheiden wie von kleinen Hofläden. Bei den Smart Stores gilt in Bayern aktuell: theoretisch 24/6, praktisch 24/7. Eigentlich müssten diese Geschäfte sonntags schließen, in der Praxis öffnen sie alle.

Federführend beim Ladenschluss: Staatsminister Aiwanger und Scharf

 

Diesen Widerspruch soll das angekündigte Bayerische Ladenschlussgesetz bald beenden. Laut Kabinettsbeschluss vom 23. Juli werden „Digitale Kleinstsupermärkte“ an jedem Tag der Woche legal rund um die Uhr öffnen dürfen, insofern die jeweilige Kommune dies vorsieht, sie nicht mehr als 150 Quadratmeter Ladenfläche haben und niemand sonntags darin arbeitet. Die beiden federführenden Kabinettsmitglieder, Arbeitsministerin Ulrike Scharf von der CSU und Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern, freuten sich bei Ihrer Pressekonferenz über ein „Chancengesetz“, das dort, wo es im ländlichen Bayern an Nahversorgung mangelt, nun Abhilfe schaffen wird.

Wie viele Arbeitsplätze kostet die Bevorzugung personalarmer Betriebsformate?

Kritische Nachfragen gab es auf der Pressekonferenz nicht. Keiner der anwesenden Journalist*innen fragte zum Beispiel, wie viele Arbeitsplätze und wie viele mittelständische Existenzen die Regelung kosten könnte. Welche Auswirkungen hat es auf die Branche, wenn der Gesetzgeber einem personalarmen Betriebsformat solche Wettbewerbsvorteile einräumt, wenn also Smart Stores nachts und sonntags Umsätze machen dürfen, während Betriebe mit Personal geschlossen sind? Könnten 24/7-Supermärkte – genau entgegen der Intention des Gesetzes – nicht auch noch die letzten kleinen Lebensmittelhändler, Bäckereien und Metzgereien auf dem Land in Bedrängnis bringen?

 

Tante-Emma-Laden, nur ohne Tante Emma: ein “Teo”-Supermarkt in Bayern

Die smarten Dorfläden wachsen und kommen in die Städte

In den Medien werden Smart Stores als pfiffige Lösung für den strukturschwachen Raum gepriesen: sympathisch wie der alte Tante-Emma-Laden, nur ohne Tante Emma. Die neuen Ladenformate fördern dieses freundliche Bild durch lustige Namen und durch ihre Gestalt. Die Teo-Läden des hessischen Handelskonzerns Tegut zum Beispiel, bisher vor allem im Raum Aschaffenburg zu finden, sehen mit ihrer runden Holzfassade ein wenig aus wie ein begehbares Fass. Der etwa 50 Quadratmeter große Container ist mit fröhlichem Orange aufgepeppt, mit Sitzbank, Bücherschrank und Fahrradluftpumpe ausgestattet, das Dach mit Wildblumen und Gräsern begrünt, auch barrierefrei, sogar von Behindertenverbänden getestet.

Doch das nette Holzfass auf der grünen Wiese könnte sich als ein Trojanisches Pferd erweisen, das die Tür für ganz andere Betriebsformate öffnet. Zum einen könnten die “Kleinstsupermärkte” bald wachsen. Die Staatsregierung will nun bis zu 150 qm Ladenfläche erlauben, ein Vielfaches der Größe bisher etablierter Betriebsformate. Die Fläche übersteigt deutlich auch die vorher in Bayern gültige Obergrenze von 100 qm oder das kürzlich in Hessen festgelegte Maximum von 120 qm. Eine Begründung für die immer großzügigere Auslegung von „Kleinst“ hat die Regierung bisher nicht genannt.

Zum anderen könnten sie künftig weniger als Dorfladen wahrgenommen werden. Es ist nicht zu erwarten, dass Handelskonzerne ihre Rund-um-die-Uhr-Geschäfte nur dort ansiedeln, wo die Nahversorgung fehlt. Wahrscheinlicher ist, dass sie mittelfristig in die Städte und Ballungsräume kommen, wo der Umsatzkuchen groß ist und sie der an den Ladenschluss gebundenen Konkurrenz etwas davon abnehmen können.

Denkbar ist wiederum auch, dass bestehende konventionelle Supermärkte selbst einen digitalen Bereich integrieren, den sie dann 24/7 laufen lassen. Smart Stores könnten sich so flächendeckend in ganz Bayern etablieren. Bisher hat die Staatsregierung nicht gesagt, ob das beabsichtigt ist oder durch die rechtliche Regelung noch ausgeschlossen werden kann.

Gelegenheit macht Ladendiebe

Durch die Ausbreitung könnten auch weniger erfreuliche Begleiterscheinungen der Smart Stores deutlicher zu Tage treten: Vandalismus und Ladendiebstahl. Wer einmal tief in der Nacht in einen verwaisten, aber geöffneten Supermarkt geht, merkt, dass das Sicherheitsgefühl trotz Überwachungskameras nicht optimal ist.

Tatsächlich scheinen Smart Stores zu später Stunde neben Teenagern und Nachtschwärmer*innen nicht selten auch Kriminelle anzuziehen. So beklagte die Polizei im hessischen Darmstadt 283 Ladendiebstähle in zwei kleinen Teo-Märkten in nur einem Jahr (s. Artikel “Warum die Polizei froh über das Sonntagsverbot für Teo ist” im Darmstädter Echo). Die personalsparenden Läden hatten das Personal der Polizei stark in Anspruch genommen.

Um Mitternacht wirkt der verwaiste Smart Store eher unheimlich

 

Die völlige Abschaffung des Ladenschlusses für Digitale Kleinstsupermärkte kann eine Welle von Gründungen auslösen. Handelsexperte Prof. Dr. Stephan Rüschen schätzte im Bayerischen Fernsehen angesichts der neuen Ladenschlusspläne, dass insgesamt mindestens 400 bis 500 solcher Smart Stores im Freistaat in Kürze entstehen könnten. Thomas Stäb, Mitglied der Geschäftsleitung von Tegut, sah im Gespräch mit dem kda allein für Teo ein Potenzial von 50 bis 100 Geschäften in Bayern.

Die Betriebskonzepte sind dabei vielfältig, auch neue Technologien werden laufend getestet, etwa das automatische Erfassen und Abbuchen der Einkäufe der Kund*innen („Grab & Go“). Gemeinsam aber haben alle Smart Stores, dass sie ihren Profit auch und vor allem an den Sonn- und Feiertagen machen wollen, wenn andere Läden schließen.

Die gesellschaftliche Notwendigkeit darf bezweifelt werden. Niemand wird behaupten, dass die Lebensmittelversorgung der bayerischen Bevölkerung bisher prekär gewesen wäre. Der gesellschaftliche Schaden aber liegt auf der Hand. Mit den Smart Stores macht Bayern die Sonn- und Feiertage zu regulären Einkaufstagen. Das verändert ihren Charakter als Tage, die, wie das Bundesverfassungsgericht fordert, frei sein sollten von ökonomischem Kalkül und werktäglicher Geschäftigkeit. Ladenöffnungen störten schon wegen ihrer öffentlichen Wirkung die Sonntagsruhe, stellte das Gericht in einem Grundsatzurteil 2009 heraus. Mit kommerziellen Motiven lässt sich das nicht rechtfertigen:

“Ein bloß wirtschaftliches Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und ein alltägliches Erwerbsinteresse („Shopping-Interesse“) potenzieller Käufer genügen grundsätzlich nicht, um Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zu seelischer Erhebung an Sonn- und Feiertagen zu rechtfertigen.”(Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 1.12.2009, Rn 157)

Bleibt ein offener Supermarkt von Samstagabend bis Montagfrüh wirklich sich selbst überlassen?

Eine weitere kritische Frage, die die Journalisten bei der Präsentation der Regierungspläne nicht stellten: „Wie wird garantiert, dass in den Läden sonntags tatsächlich nicht gearbeitet wird?“ Die Annahme der Personallosigkeit ist schließlich der Ausgangspunkt der ganzen Sonderbehandlung der Smart Stores. Dass digitale Kleinstsupermärkte mehr oder weniger, mindestens aber am Sonntag, ohne Personal auskämen, hat die Politik bisher einfach geglaubt und wohl nicht näher überprüft.

Kann ein geöffneter, herrenloser Supermarkt mit vielleicht tausend verschiedenen, darunter auch vielen frischen Produkten wirklich zwei Nächte und einen Tag, von Samstagabend bis Montagmorgen, sich selbst überlassen bleiben?

Man muss nicht wie im oberfränkischen Gewerbegebiet einer angestellten Minijobberin sonntags direkt in die Arme laufen, um zu ahnen, dass es ganz ohne menschlichen Arbeitseinsatz schwer gehen wird im digitalen Laden. Was ist, wenn Kundinnen oder Kunden dringenden Unterstützungsbedarf haben oder wenn Waren ausgehen oder verderben? Was passiert bei technischen Störungen, was bei Fällen von Vandalismus oder wenn einfach Nutellagläser oder Milchtüten am Boden zerplatzen?

Wer am Sonntag irgendwo in der bayerischen Provinz einen Smart Store betritt, wird mit gewisser Wahrscheinlichkeit die Spuren der Samstagnacht erkennen, wenn sich besonders junge Leute in und um diese Geschäfte aufhalten und dort mit Snacks und Getränken versorgen. Müll und heruntergefallene Waren stechen ins Auge. Mitunter ist das Geschäft später am Nachmittag dann wie von Zauberhand wieder aufgeräumt.

Sonntagmittag ist der Laden etwas ramponiert, abends wieder aufgeräumt

 

Mindestens sporadisch – damit aber dennoch rechtswidrig – werden Arbeitseinsätze auch sonntags notwendig sein. Es ist anzunehmen, dass der Aufwand an Personal und Überwachung wächst, je größer diese Märkte werden.

Bayern will Bundesladenschluss hinter sich lassen

Mit dem Bayerischen Ladenschlussgesetz will der Freistaat nun als letztes Bundesland das Bundesladenschlussgesetz abschaffen. Es gilt vielen als veraltet, obwohl er sich bewährt hat und der Einzelhandel hier im Vergleich zu anderen Bundesländern bislang gut damit fährt. Die Erfahrungen anderswo zeigen, dass längere Öffnungszeiten nur die Betriebskosten erhöhten, aber nicht die Umsätze. Inzwischen tritt sogar der Handelsverband Bayern für die Beibehaltung des „alten“ werktäglichen Ladenschlusses um 20 Uhr ein.

„Modern“ soll nun heißen: Eventnächte und Sonntags-Supermärkte. Zum einen soll laut der Eckpunkte der Staatsregierung die Zahl der werktäglichen Shoppingnächte im konventionellen Handel von 1 auf 12 pro Jahr erhöht werden (8 pro Kommune plus 4 für jeden einzelnen Betrieb), zum anderen soll der besagte 24/7-Betrieb der Smart-Stores erlaubt werden. Zu beiden Schritten gibt es bereits sehr kritische Stimmen u.a. aus den Gewerkschaften und den Kirchen.

Kommen die Ladenschlusspläne noch auf den Prüfstand?

Wie „smart“ der Einstieg ins reguläre Sonntagsshopping für die Handelsbranche und ihre Arbeitsplätze ist, bleibt fraglich. Ob es verfassungskonform ist ebenso. Und auch die massiven Vervielfachung der Shoppingnächte von 1 auf 12 stößt auf scharfe Kritik, besonders beim Verkaufspersonal, das schon heute oft unter familienunfreundlichen Arbeitszeiten leidet. Die Nachtöffnungen beeinträchtigen selbst den Sonntag, wenn sie am Samstag stattfinden und zu (rechtswidrigen) Arbeiten bis in den frühen Sonntagmorgenstunden führen. Wer bis nach Mitternacht im Laden steht und vielleicht erst um 1 oder 2 Uhr im Bett liegt, wird kaum am nächsten Tag einen Gottesdienstbesuch oder einen großen Ausflug mit den Kindern planen.

Bei der Verkündung ihrer Ladenschlusspläne betonte Staatsministerin Ulrike Scharf trotz aller Einwände, die Reform sei ausgewogen:

„Mir ist wichtig, dass wir mit allen Interessensgruppen gesprochen haben, von Stadt bis Land, Verbraucher, Unternehmer, Gewerkschaften, Kirchen, Handelsverbände. Das war wirklich ein dickes Brett.“

Ob bei den Gesprächen am Runden Tisch tatsächlich alle Seiten gut gehört wurden, ist diskutabel angesichts der möglicherweise einschneidenden Veränderungen für die Branche, die Beschäftigungsbedingungen und die bayerische Feiertagskultur. Die Ladenschlusspläne sollten deshalb noch einmal kritisch auf den Prüfstand. Im Frühherbst gibt es dazu die nächste Gelegenheit: Dann wird der Gesetzentwurf vorliegen und die offizielle Verbändeanhörung stattfinden.

Philip Büttner, kda München

Titelbild: Canva.com, kda Bayern
Fotos Smart Stores: kda Bayern
Fotos Scharf / Aiwanger: Michael Lucan via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DE  (Fotomontage)

Arbeitsbedingungen, Digitalisierung, Politik, Sonntagsschutz, Wandel der Arbeitswelt, Zeit

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