Macht und Freiheit

„Zeit“ ist eine Frage von Macht und Freiheit. Soziale Gerechtigkeit ist unbedingt mit einer gerechten Verteilung von Zeit verbunden. Mit dieser These hat die Autorin Teresa Bücker in den letzten zwei Jahren viel Anerkennung erfahren. In ihrem Buch „ALLE_ZEIT. Eine Frage von Macht und Freiheit“ (Ullstein Berlin) fordert sie, dass alle Menschen frei über ihre Zeit verfügen sollten und mahnt die gerechte Verteilung dieser Souveränität an.

Für Bücker ist Zeit die zentrale Ressource und Geschenk zugleich. Sie postuliert eine neue Zeitkultur, die der Schlüssel für Geschlechter- und Generationengerechtigkeit und für eine nachhaltige Ökonomie ist.

Mit der Forderung nach einer radikalen Umverteilung von Zeit hat die Sachbuch-Autorin auch uns auf neue Gedanken gebracht:

„Endlich jemand, die mit ganz konkreten Alltagsbeispielen eine Ungerechtigkeit benennt, die wir intuitiv immer gefühlt haben. Dass Zeit mehr ist als nur der tickende Zeiger. Eine Frau, die eine Zukunftsvision entwirft, in der soziale Gerechtigkeit auch in der Arbeitswelt das Wichtigste ist“,

so Nina Golf, wissenschaftliche Referentin des kda Bayern.

Titelbild: kda Bayern, Buchcover Ullstein Verlag

Für den kda Report hat Nina Golf zwei Kooperationspartner*innen und Arbeitszeitexpert*innen der evangelischen Kirche und Diakonie zum Thema „Zeit“ interviewt:

Welche These von Teresa Bücker hat Dich besonders angesprochen?

Erschreckend fand ich gleich zu Beginn des Buchs die Erkenntnis, dass die Zeit-Sozialisation von Kindern dann abgeschlossen ist, wenn sie – wie wir Erwachsene – Zeitnot empfinden und ihre eigene Zeit als begrenzt erleben.

Da frage ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass in unserer Gesellschaft „im Stress und in Zeitnot zu sein“ nicht nur zum Normalzustand gehört, sondern sogar „en vogue“ werden konnte.

Laut Bücker gilt „busy zu sein“ als Statussymbol in unserer Gesellschaft!

Damit lässt sich die große Scham, die oft mit Arbeitslosigkeit einhergeht, erklären: es ist normabweichend den ganzen Tag Zeit zu haben und die eigene Zeit nicht „sinnvoll“ zu nutzen ist gesellschaftlich verpönt.

Wo erlebst Du Zeit als eine Frage von Macht und Freiheit?

Ich erlebe Zeit als Ausdruck Macht und Freiheit, indem ich mich aktuell sehr eingeschränkt darin fühle, mich ehrenamtlich engagieren zu können.

Neben Erwerbsarbeit in Vollzeit und der familienbedingten Carearbeit bleibt keine Zeit für ein Ehrenamt übrig. Dadurch fehlt meine Perspektive als berufstätige Mutter in diversen Kontexten – allen voran in der Politik. Das schmerzt mich immer mehr.

Während der Corona-Pandemie fühlte ich mich so vergessen wie noch nie von der Politik, das würde ich gerne ändern!

Was muss sich ändern, damit wir der Utopie einer gerechteren Verteilung von Zeit näherkommen?

Neben einer gerechteren Verteilung der Ressource Zeit zwischen den Geschlechtern brauchen wir aktuell vor allem eine Entlastung von Familien mit Kindern.

Angesichts des Fachkräftemangels benötigen wir als Gesellschaft die gut ausgebildeten Frauen in der Berufswelt. Zwar hat sich in den letzten Jahren die Erwerbsarbeitsquote von Frauen durch den Ausbau der Kinderbetreuung enorm gesteigert. Doch derzeit erleben wir einen Rückgang von Kinderbetreuungszeiten und insbesondere deren Verlässlichkeit.

In Bonn werden aktuell beispielsweise gar keine Vollzeitbetreuungsplätze mehr angeboten und jede Woche werden Betreuungszeiten wegen Personalmangels kurzfristig (!) zusätzlich gekürzt. Auf diese Weise können junge Eltern selbst nicht verlässlich einer Erwerbsarbeit nachgehen.

Eine Lösungsmöglichkeit wäre hier eine kurze Vollzeit von 30 Stunden für Eltern während der Familienphase. Wenn wir eine gerechtere Verteilung von Erwerbsarbeit und Carearbeit wollen, müssen insbesondere Väter weniger arbeiten können.

Wie wollen wir zukünftig arbeiten / welche Utopien dürfen real werden?

Teresa Bückers Utopie eines zivilgesellschaftlichen Sabbaticals finde ich einen sehr vielversprechenden Ansatz! Dabei geht es darum, Menschen zu ermöglichen sich für unsere Gesellschaft zu engagieren und gleichzeitig auskömmlich versorgt zu sein – beispielsweise mit einer Art Grundeinkommen.

Das sollte nicht nur für junge Menschen nach dem Schulabschluss möglich sein, sondern in allen Lebensphasen!

Interview: Nina Golf, wissenschaftliche Referentin im kda Bayern

Welche These von Teresa Bücker hat Dich besonders angesprochen?

Beeindruckt hat mich, dass selbst eine Verkürzung der Wochen-Arbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche, die ja im Sozial- und Gesundheitswesen derzeit als utopisch gilt, von Teresa Bücker als nicht ausreichend angesehen wird, um neben der Berufstätigkeit genügend Zeit für Care-Arbeit und für sich selbst zu haben.

Jede*r braucht Zeitsouveränität, um sich auch in die Gesellschaft einbringen zu können. Das wird in den derzeitigen Arbeitsbedingungen z.B. in der Pflege in keiner Weise mitgedacht.

Jede*r braucht genügend Eigenzeit, was vor allem für Frauen eine Entlastung von familiären Verpflichtungen bedingt.

Demokratische Teilhabe und Freiheit werden für viele Menschen erst durch eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit realisierbar.

Wo erlebst Du Zeit als eine Frage von Macht und Freiheit?

Persönlich erlebe ich dieses ganz konkret bei der Frage der wöchentlichen Arbeitszeit. Ich habe diese auf 36 Stunden reduziert, weil ich mir diesen Schritt finanziell leisten konnte. Aber ich verdiene vergleichsweise gut und habe nicht das Problem einer steigenden Miete, mit der die Lohnentwicklung nicht mithalten kann.

Beruflich bemerke ich allerdings, dass die Kollegen*innen in den Mitarbeitervertretungen enorm unter Druck stehen, gerade dann, wenn sie in kleineren Einrichtungen keine Freistellungen haben.

Auch im beruflichen Kontext gilt, dass Partizipation Zeit braucht. Diese fehlt ihnen oft, sodass die Möglichkeiten der Mitbestimmung oft kaum gelebt werden können.

Es gibt leider zu viele diakonische Träger gerade in der Pflege, kleine wie große, die ganz deutlich signalisieren, dass sie keinen Wert auf Mitbestimmung legen.

Was muss sich ändern, damit wir der Utopie einer gerechteren Verteilung von Zeit näherkommen?

Wir brauchen eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit gerade in den Care-Berufen und hier zugleich eine Entzerrung der Arbeitsdichte durch mehr Personal.

In der Pflege zu arbeiten muss für junge Männer erstrebenswerter sein als einen Job z.B. als KfZ-Mechatroniker. Hier müssten diakonische Arbeitgeber vorangehen, deutlich kürzere Vollarbeitszeiten als der öffentliche Dienst anbieten, damit ein eigenes Arbeitsrecht überhaupt politisch begründbar ist.

Kirchliche Arbeitgeber könnten eine Vorbildfunktion bei der Vereinbarkeit von Beruf und Leben übernehmen. Im Grunde müssten kirchliche Arbeitgeber zudem dafür werben, dass sich die eigenen Mitarbeiter*innen gewerkschaftlich organisieren.

In den Care-Berufen, ob in der Pflege oder den Kitas, arbeiten überwiegend Frauen, die oft viel zu erschöpft sind, sich zu organisieren und für gute Arbeitsbedingungen zu engagieren. Deshalb brauchen wir im Grunde einen starken Branchentarifvertrag, um die Arbeitsbedingungen schnell zu verbessern.

Wie wollen wir zukünftig arbeiten / welche Utopien dürfen real werden?

Als erstes gehört die Vier-Tage-Woche auf die Agenda. Das heißt auch, dass als Zwischenschritt maximal ein Neun-Stunden-Tag akzeptabel ist.

Und für Kolleg*innen, die im Schichtdienst arbeiten, braucht es zusätzliche Entlastungen, damit sie verlässliche Arbeitszeiten haben und Nacht- sowie Sonntagsarbeit zusätzlich honoriert wird.

Darüber hinaus brauchen wir einen Einstieg in gesellschaftlich bezahlte Sabbaticals.

Interview: Nina Golf, wissenschaftliche Referentin im kda Bayern

Zeit, Gerechtigkeit, Wandel der Arbeitswelt

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