„Der Wandel ist Programm“ – Interview mit Ulrich Walwei über eine veränderte Arbeitswelt und die Normalität von morgen

Prof. Dr. Ulrich Walwei ist Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg und Honorarprofessor für Arbeitsmarktforschung an der Universität Regensburg. Der renommierte Ökonom und Arbeitsforscher war Mitglied des von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ins Leben gerufenen Think Tanks „Rat der Arbeitswelt“ und gehört einer Reihe weiterer Beratungsgremien an.

„Wir müssen fragen, wie wir zusätzliche Arbeitskraftpotenziale erschließen können.“

kda Bayern: Herr Prof. Dr. Walwei, seit 36 Jahren sind Sie beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung tätig, seit 12 Jahren als dessen Vizedirektor. Welche Veränderungen in der Arbeitswelt haben das IAB in den vergangenen Jahrzehnten besonders beschäftigt?

Ulrich Walwei: Ein roter Faden war die Technologieentwicklung. Zu der Zeit, als das IAB in den 60er Jahren gegründet wurde, hatte man große Befürchtungen, dass die Automatisierung den Menschen die Arbeit wegnehmen würde. Damals sprachen viele vom „Jobkiller“, anderen hofften auf einen „Jobknüller“. Tatsächlich gab es immer Gewinner und Verlierer, insgesamt aber war es nicht nachweisbar, dass neue Technologien Massenarbeitslosigkeit verursacht hätten.

Ein zweites Forschungsthema über die Jahrzehnte war die Demografie. Früher waren es die geburtenstarken Jahrgänge, die in den Arbeitsmarkt drängten. Heute stehen die geburtenschwachen Jahrgänge im Erwerbsleben und wir müssen danach fragen, wie wir zusätzliche Arbeitskraftpotenziale erschließen können, etwa durch Zuwanderung, durch die Beschäftigung Älterer, durch eine bessere Beschäftigungssituation von Familien oder durch die Inklusion von Menschen mit Behinderungen.

Und dann waren es natürlich historische Ereignisse, die uns im IAB beschäftigt haben: die Wiedervereinigung 1990 mit der dann hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, die Hartz-Reformen ab 2003, die Finanzkrise 2008/2009, die Covid19-Pandemie oder jetzt die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine.

Das Hartz-Paket brachte die größten arbeitsmarktpolitischen Reformen in der Geschichte der Bundesrepublik. War das Ganze in Ihren Augen ein Erfolg?

Man muss sich vergegenwärtigen, in welche Zeit das fiel. Wir hatten damals viereinhalb bis fünf Millionen Arbeitslose. Da waren neben konjunkturellen Impulsen strukturelle Reformen tatsächlich angezeigt. Die waren aber nicht der einzige Faktor, der dem Arbeitsmarkt geholfen hat, auch die moderaten Tarifabschlüsse haben dazu beigetragen.

„Arbeitnehmer können ihre Wünsche und Bedarfe nun wieder besser durchsetzen.“

Die Arbeitswelt wurde in dieser Zeit flexibler, aber auch viel prekärer. Das so genannte Normalarbeitsverhältnis – also die unbefristete, sozialversicherte Beschäftigung – war gar nicht mehr so „normal“. Erleben wir heute ein Comeback dieser Arbeitsform?

Genau, es ist eine bemerkenswerte Entwicklung! Die Markposition der Arbeitnehmer hat sich verändert, sie können ihre Wünsche und Bedarfe nun wieder besser durchsetzen. Die Zeit- und Leiharbeitsfirmen zum Beispiel tun sich heute viel schwerer, Personal zu finden. Die Zahl der Befristungen wächst nicht mehr. Bei der Arbeitszeit geht es in Richtung freiwillige Teilzeit oder verkürzte Vollzeit.

Die Lage am Arbeitsmarkt erscheint widersprüchlich. In vielen Branchen herrscht ein alarmierender Personalmangel. Zugleich haben wir immer noch etwa 2,7 Millionen Arbeitslose. Wie passt das zusammen?

Der Arbeitsmarkt ist kein homogener Block. Der setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. In einem Segment sind die qualifizierten Arbeitskräfte knapp. Dieses Segment wächst u.a. aufgrund des demografischen Wandels, wie wir das beispielsweise in der Pflege sehen. Aber diejenigen, denen es an Qualifikationen fehlt, müssen auch künftig mit einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko und einem geringen Lebenseinkommen rechnen. Wir sehen weiterhin ein Wachsen der Qualifikationsanforderungen.

„Wir laufen einen Marathon im Erwerbsleben.“

Wie wird in Ihren Augen die Arbeitswelt von morgen aussehen, was wird künftig „normal“ sein?

Normal wird sicher sein, dass ich mich als Erwerbstätiger immer neuen Herausforderungen stelle. Der Wandel ist Programm. Ich kann nicht davon ausgehen, dass das, was ich einmal gelernt habe, mich durch mein ganzes Erwerbsleben trägt. Damit meine ich nicht, dass wir in den Betrieben unglaubliche Fluktuationen von Mitarbeitenden sehen werden. Man wird sich auch innerhalb desselben Betriebs immer wieder auf neue Aufgaben einstellen müssen. Das kann sehr spannend, aber auch sehr belastend sein.

Eine andere Frage ist: Wie und an welchen Orten arbeite ich? Schon heute könnten viele Erwerbstätige ihren Job praktisch überall erledigen. Wenn es meinen eigenen Bedürfnissen entspricht, ist mobiles Arbeiten sehr verheißungsvoll. Gleichzeitig wird aber viel Erreichbarkeit von mir verlangt und es kann sein, dass ich nur noch schwer Abstand von der Arbeit finde. Ob das dann am Ende Fremd- oder Selbstausbeutung ist, lass ich mal dahingestellt, aber es bringt Entgrenzungsprobleme mit sich.

Eine neue Normalität wird auch sein, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung alle davon ausgehen müssen, dass wir im Erwerbsleben einen Marathon laufen. Frühverrentungsmentalität gab es in den 90erJahren. Heute müssen wir für die lange Strecke bereit sein und aufpassen, nicht zu sehr zu beschleunigen, damit wir am Ende noch Kraft haben, aufrecht durchs Ziel zu kommen. Da geht es um Work-Life-Balance. Eine politische Empfehlung wäre beispielsweise, die Arbeitszeitmodelle flexibler an die Bedürfnisse bestimmter Lebensphasen anzupassen.

Müsste man hier nicht auch zwischen verschiedenen Berufen unterscheiden? Körperlich sehr beanspruchende Tätigkeiten kann man doch über eine lange Erwerbsbiografie hinweg kaum durchhalten.

Ja, ich hatte gerade heute ein Gespräch mit einer Zimmerer-Innung, in dem mir deutlich gemacht wurde, dass ältere Beschäftigte am Bau oft gar nicht mehr in der Lage seien, den Aufgaben dort nachzugehen. Das zeigt mir aber, dass wir in der Nutzbarmachung von Technologien zur Entlastung körperlicher Arbeit immer noch nicht weit genug gekommen sind. Das ist ein wichtiges Feld, denn die Alterung wird uns als Gesellschaft noch sehr stark beschäftigen. Wir sind uns dieses Problems noch gar nicht vollständig bewusst.

„Arbeitsfreie Sonntage dienen auch dem Zusammenhalt der Gesellschaft.“

Zur Balance von Arbeit und Leben gehört aus Sicht der Kirche unbedingt auch die Sonntagsruhe. Wenn die Arbeitswelt aber immer fluider und digitaler wird und man jederzeit und überall arbeiten kann, glauben Sie, dass es in hundert Jahren noch einen freien Sonntag geben wird?

Hundert Jahre? Das ist lang für eine Prognose. Vorab ist hier zu sagen, dass Arbeit an Sonntagen in einigen Berufen einfach notwendig ist, denken wir nur an die Krankenhäuser. Grundsätzlich hat aber die in weiten Bereichen geltende Sonntagsruhe den großen Vorteil, dass man davon ausgehen kann, dass an diesem Tag auch andere Menschen frei haben. Da kann man ganz anders planen. Das fängt beim Gottesdienst an, aber betrifft natürlich auch die Familie und den Freundeskreis. Solche arbeitsfreien Tage für möglichst viele Menschen dienen auch dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Insofern würde ich mir zumindest wünschen, dass es eine Übereinkunft gibt, da wir so eine Auszeit einfach brauchen, um Kraft zu tanken – im Sinne dieses Marathons, von dem ich gerade gesprochen habe. Aber ich kenne natürlich auch Gesellschaften, etwa die USA, in denen der Sonntag mit Vorliebe zum Shopping genutzt wird. Da das Angelsächsische oft zu uns hinüberschwappt, bin ich mir nicht ganz sicher, wie der Sonntag in ferner Zukunft aussehen wird.

Sie selbst sind 65 Jahre alt. Wie blicken Sie persönlich auf das Ende des Berufslebens?

Manche Wissenschaftler legen doch im Ruhestand nochmal richtig los. Die Zeit zum Schreiben, die immer gefehlt hat, ist dann mit einem Mal da. Auch ich frage mich, wo steckt mein Herzblut, welche Projekte wären noch spannend? Aber das mag ein besonderer Blickwinkel sein. Wenn ich in meinem Freundeskreis erzähle, dass ich in irgendeiner Form weiterarbeiten möchte, dann werde ich meist komisch angekuckt. Ich glaube allerdings, dass auch das künftig zum „New Normal“ gehören könnte: das Arbeitsleben nicht mehr einfach so abzuhaken im Ruhestand.

Interview: Philip Büttner, Wissenschaftlicher Referent, kda München
Bild: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Wolfram Murr Photofabrik /
Hintergrundbild: kda Bayern

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