Interview zum Frauenmonat März: Anlässlich des Internationalen Frauentags 2023 nähern wir uns dem Thema „Frauen und Arbeit“ aus europäischer Sicht. Dazu sprachen wir mit Annelies Bruhne, Referentin für Wirtschaft und Europa vom „Ev. Verband Kirche, Wirtschaft, Arbeitswelt“ (KWA) und Dr. Julia Dinkel, Sprecherin des KWA-Europa-Ausschusses.
Die aktuelle Kommissionspräsidentin heißt Ursula von der Leyen, die Präsidentin des Europäischen Parlaments ist Roberta Metsola und fünf EU-Staaten werden aktuell von Frauen geführt – das hört sich doch nicht schlecht an, oder?
Julia Dinkel: Auf jeden Fall hört sich das gut an! Eine richtige gute Entwicklung, die hier in den letzten Jahren in der EU stattgefunden hat. Aber daneben gibt es leider auch immer wieder negative Bilder, die sich festsetzen und die zeigen, dass Vorurteile, Nicht-Ernstnehmen und systematische Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen stattfinden.
Ich erinnere mich z.B. an das Bild, als Ursula von der Leyen in ihrer aktuellen Funktion zusammen mit dem Ratspräsidenten Charles Michel zu Gesprächen in die Türkei fuhr und ihr ein Stuhl am Verhandlungstisch verwehrt wurde. Ihr Brüsseler Kollege schien damit erst im Nachgang Schwierigkeiten zu haben.
Annelies Bruhne: Oh ja, wirklich eine Sternstunde misogynen Verhaltens. Bei aller Oberflächlichkeit dieser Bilder zeigt sich, dass trotz einiger, toller Erfolge für die Gleichberichtigung von Frauen in der EU noch einiges zu tun bleibt.
Es ist eben nicht damit getan, dass einige Frauen Spitzenpositionen besetzen. Es geht ganz allgemein darum, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass politisch wie auch kulturell eine gerechte und akzeptierte Teilhabe von Frauen möglich ist, und dass dieses Anliegen nicht als konkurrierend, sondern verstärkend für die wirtschaftliche Entwicklung wahrgenommen wird.
Und für solch einen inklusiven Ansatz bietet – wenn auch natürlich nicht ausreichend – der Blick auf die Arbeitsbedingungen von Frauen gute Hinweise, an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss.
Wie viele Frauen sind in der EU denn aktuell berufstätig? Haben sich hier in den letzten Jahren Veränderungen ergeben?
Annelies Bruhne: Auch hier zeigt sich ein positiver Trend. Die Erwerbstätigkeit von Frauen – wie auch die allgemeine – ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen.
2021 lag die Frauenerwerbsquote im EU-Durchschnitt bei 67,7 %., die der Männer bei 78,5 %. Zwischen den einzelnen EU-Staaten zeigen sich hier deutliche Unterschiede, die mit der jeweiligen allgemeinen Erwerbsquote zusammenhängen.
In Deutschland haben wir eine Frauenerwerbsquote von 74,7% und stehen damit im europäischen Vergleich ganz gut dar.
Julia Dinkel: Auf jeden Fall ist es positiv zu bewerten, dass mehr Frauen arbeiten und damit auch unabhängiger werden und für sich selbst sorgen können.
Tauchen wir jedoch etwas tiefer in die Zahlen ein, so zeigt sich, dass Frauen nach wie vor mehr in Teilzeit arbeiten, in erster Linie, um Familie und Beruf vereinbaren zu können. Frauen arbeiten aber auch vermehrt in Branchen wie Pflege, Gesundheut und Erziehung, die essentiell für unsere Gesellschaft sind, aber nicht entsprechend entlohnt werden.
Wie kann die EU hier aktiv werden? Ist das nicht Sache der Länder?
Julia Dinkel: Eine sehr gute Frage! In der Tat sind die Kompetenzen der EU im sozialen Bereich begrenzt. Für Arbeits- und Sozialpolitik findet die Gesetzgebung in erster Linie auf der nationalen Ebene statt. Das bedeutet, dass jedes Mitgliedsland für sich z.B. über Rentensysteme, Renteneintrittsalter oder Hilfe für Arbeitslose entscheidet. Grundsätzlich legt die EU ihren Mitgliedsstaaten nahe, sich über best practices auszutauschen.
Annelies Bruhne: Der sozialpolitische Rahmen in der EU hat sich seit ihrer Gründung erweitert, aber er wurde nicht konsequent genutzt. Seit kurzem allerdings kommt durch die 2017 proklamierte Europäische Säule Sozialer Rechte recht unerwartet wieder etwas mehr Schwung in das Thema.
Was auf den ersten Blick als recht unverbindlicher Zielkatalog von 20 Grundprinzipien und einer Reihe von Initiativen für Chancengleichheit, faire Arbeitsbedingungen und nachhaltigen Sozialschutz wirkte, hat nach einigen Jahren Anlauf konkrete Ergebnisse hinsichtlich europäischer Richtlinien nach sich gezogen.
Julia Dinkel: Ganz aktuell haben sich europäisches Parlament und der Rat letzten Dezember auf eine Richtlinie über Lohntransparenz geeinigt.
Die soll es Arbeitnehmerinnen ermöglichen, bei ihrer Arbeitgeberin Auskunft über ihr individuelles Einkommen und über die durchschnittlichen Einkommen zu verlangen. Aufgeschlüsselt nach Geschlecht und für Gruppen von Arbeitnehmerinnen, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten. Und vor allem unabhängig von der Größe des Unternehmens.
Das kann z.B. dabei helfen, den Gender Pay Gap zu verringern.
Annelies Bruhne: Das Gute an den Richtlinien ist, dass sie fristgerecht von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Ansonsten drohen finanzielle Sanktionen. Dennoch aber bleibt es spannend, die Wirkkraft einer EU-Richtlinie im Nachgang nachzuvollziehen, ob es in Europa zu einer Kongruenz kommt, ob die Umsetzung in den europäischen Ländern auch hin zu vergleichbaren Arbeitsbedingungen in Europa führen.
Üblicherweise bewertet die Kommission ihre Richtlinien nach einigen Jahren.
Habt ihr hierfür noch ein Beispiel, damit wir uns noch konkreter etwas darunter vorstellen können?
Julia Dinkel: Uns fällt hier das Beispiel der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie ein. Diese Richtlinie soll europäischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einen Mindestschutz vor schlechten Arbeitsbedingungen bieten. Dass es so eine umfassende Richtlinie überhaupt gibt, ist gut. Die EU hat da weltweit ein Alleinstellungsmerkmal.
Aber: diese Richtlinie von 2003 ist zumindest aus nordeuropäischer Sicht so weichgespült und der Schutzgedanke ziemlich verwässert, dass es hier eher zur Gefahr eines “race-to-the-bottom” kommt. Das Arbeitszeitgesetz in Deutschland hat da höhere Maßstäbe.
Annelies Bruhne: Die Diskussionen um diese Richtlinie waren sehr stark, nicht nur im Rat, sondern auch im europäischen Parlament und dort auch nochmal in den einzelnen Parteigruppierungen. Dazu kommt, dass die nationale Umsetzung in vielen Ländern so spät und mangelhaft war, dass die Europäische Kommission überall bis auf Luxemburg und Italien Mängel beanstandet hat.
Im Jahr 2009 sollte dann eine Novelle dieser Richtlinie auf dem Verhandlungstisch kommen, die den weichen Arbeitsschutz noch weiter geschwächt hätte. Beispielsweise durch Möglichkeit zur dauerhaften Ausweitung der bislang auf höchstens 48 Stunden/Woche festgesetzten Arbeitszeit. Die Verhandlungen wurden dann abgebrochen. Gerichtsurteile des EUGH waren es dann, welche die Politik in den letzten Jahren in Handlungszwang gebracht hat.
Dass es Zeit wird, den Grundgedanken des Arbeitsschutzes auch im Sinne eines Gesundheitsschutzes zu stärken, ist aus heutiger Sicht wesentlich weniger umstritten, gerade auch durch die Erfahrungen aus den letzten Pandemiejahren. Dieses läuft nun unter dem Dach der Europäische Säule Sozialer Rechte, mal direkt, mal indirekt. Ob dieses letztlich ein erfolgreicherer Weg sein, muss sich zeigen.
Wie steht es denn um die Aufteilung von Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern in der EU?
Julia Dinkel:
Die unbezahlte Care-Arbeit in all ihren Facetten ist trotz zahlreicher Bemühungen nach wie vor in erster Linie Frauen-Arbeit und das trifft auf alle EU-Länder zu.
Aktuell bräuchten Männer in etwa vier Jahre, um so viel private, berufliche und ehrenamtliche Fürsorgetätigkeiten zu erbringen wie Frauen in einem Jahr.
Ganz deutlich hat sich das während der Corona-Pandemie gezeigt. Es waren in erster Linie Frauen, die aufgefangen haben, was durch Schließung von Kindergärten, Schulen und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens weggefallen ist. Oft neben der Erwerbsarbeit. Einige Wissenschaftlerinnen sprechen daher davon, dass es durch Corona zu einer Re-Traditionalisierung gekommen ist.
Annelies Bruhne: Es gab im Umgang mit dem Zurückfahren des öffentlichen Lebens schon Unterschiede.
Auch wenn es kein EU-Land ist, aber die Ansprache der norwegischen Ministerpräsidentin, bei der sie die Kinder direkt andressierte und um Verständnis warb, bleibt in Erinnerung. Oder die durchgängige Kinderbetreuung in Dänemark während der ganzen Pandemie. In Deutschland hat es gefühlt sehr lange braucht, bis Kinder und Familien in den Fokus der Politik gerückt sind.
Und überhaupt:
Haben nicht die Frauen in den letzten Jahrzehnten sich stark an die Erwerbsbiographien der Männer angepasst? Und wäre es nicht an der Zeit, dass sich auch Männer sich den Frauen anpassen?
Den Wunsch, den Anteil der Erwerbstätigkeit zugunsten von Ehrenamt, Sorgearbeit für Kinder und eigene Eltern zu verringern, gibt es überall in Europa, und nochmal verstärkt durch die Pandemie. Schließlich ist Europa ein alternder Kontinent, die Herausforderungen daraus ergeben sich ja nicht nur für die Sozialversicherungen, sondern auch ganz praktisch in jeder Familie.
Eure Meinung abschließend: ist Gleichstellung etwas, was in Brüssel durchgesetzt werden sollte?
Julia Dinkel: „In Vielfalt geeint” ist das Motto der EU und es muss, soll und kann nicht in allen EU-Staaten alles gleich sein, aber die Rahmenbedingungen sollten in etwa gleich sein.
Global betrachtet, geht es uns hier als Frauen, die in der EU leben, gut. Aber wir müssen nach wie vor auf Ungleichheiten aufmerksam machen und erleben weiterhin Nachteile.
Wir alle – Frauen und Männer – dürfen das Thema Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern nicht aus dem Blick verlieren.
Annelies Bruhne: Die Gefahr, dass Europa auseinanderzufallen droht, ist keine bloße Idee aus dem Elfenbeinturm. Sie zeigt sich immer wieder an verschiedenen Ecken.
Eine hohe soziale Ungleichheit, das haben wir spätestens in den letzten Jahren gesehen, ist weniger ein ökonomischer Anreiz oder Wettbewerbsvorteil, sondern erschwert ein Zusammenwachsen Europas.
Sowohl im politischen System, wie z.B. bei der Meinungsbildung im EU-Parlament, als auch in der europäischen Zivilgesellschaft, die sich ja mit ihren jeweiligen Vorstellungen bei den Zukunftsthemen für den gemeinsamen Kontinent einbringen soll.
Annelies Bruhne ist Referentin für Wirtschaft und Europa beim Ev. Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA) in Hannover. Nähere Informationen: https://www.kwa-ekd.de/europa/; Kontakt: a.bruhne@kwa-ekd.de
Dr. Julia Dinkel arbeitet beim Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Ihre Schwerpunkte sind Europäische Arbeitsmarktfragen und berufliche Jugendbildung. Nähere Informationen: https://www.zgv.info/ Kontakt: j.dinkel@zgv.info
Das Gespräch führte Nina Golf.
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