„Behindert ist man nicht – man wird behindert.“

MÜNCHEN. „Wer ist nicht behindert?“ Unter dieser Frage diskutierte ein Podium aus Behindertenvertretern beim diesjährigen Sozialpolitischen Buß- und Bettag in München, wie Inklusion in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche gelingen kann. Aufgrund der Corona-Pandemie fand die Kooperationsveranstaltung des kda Bayern mit dem Prodekanat München-Nord nicht wie im vergangenen Jahr in der Evangeliumskirche vor Ort, sondern virtuell statt.

Ohne die Schwächsten ist Kirche nicht ganz

Zum Einstieg gab Dr. Roland Pelikan, Industrie- und Sozialpfarrer im kda Bayern, wichtige Impulse und Hinweise, wie von Behinderung theologisch-ethisch verantwortet gesprochen werden kann. Wenn etwa Gott in Psalm 82,3 fordere: „Schaffet Recht…und helft den Elenden und Bedürftigen.“, dann wäre hier auch an Menschen mit Beeinträchtigungen zu denken. Und wenn im Glaubensbekenntnis die „Gemeinschaft der Heiligen“ benannt werde, dann zählten zu dieser Gemeinschaft natürlich Menschen mit Beeinträchtigungen. „Der evangelische Theologe Ulrich Bach sagt daher, dass ohne die Schwächsten die Kirche nicht ganz ist“, so Pelikan. Dies bestärke die EKD-Orientierungshilfe zu Inklusion unter dem programmatischen Titel „Es ist normal, verschieden zu sein.“

Schwierige Fragen stellten sich dennoch, die in Kirche und Theologie kaum besprochen würden, etwa ob Gott eine Behinderung mitgeschaffen habe. Und es bleibe eine Aufgabe der Kirche, dem vorherrschenden Menschenbild zu widersprechen, das eine Beeinträchtigung als defizitär markiere. Dies zeige sich etwa an den ungünstigen Chancen für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. So seien selbst in der vergangenen konjunkturellen Hochphase 15 Prozent aller Menschen mit Beeinträchtigungen arbeitslos gewesen. „Behindert ist man nicht – man wird behindert“, so Pelikans Fazit.

Behindert wird man im Alltag

Wie dieses „Behindert werden“ im Alltag aussehen kann, illustrierten die Podiumsteilnehmer. Oswald Utz, Behindertenbeauftragter der Stadt München, erzählte von einer Begegnung mit einer Mutter. Sie suchte nach einem Behindertenchor für ihre Tochter. Mit der Aussage „Ich wusste gar nicht, dass man behindert sein muss, um singen zu können.“ habe er sie bewusst irritiert und ihr den Impuls gegeben, nach einem Chor in der Nachbarschaft zu schauen. Inzwischen singe das Mädchen in einem Kirchenchor. „Es macht etwas mit uns, dass es extra Angebote für Behinderte gibt“, so Utz‘ Wahrnehmung.

Thomas Bannasch, Geschäftsführer der LAG Selbsthilfe Bayern e.V., pflichtete dem bei. „Ich erlebe, dass viele Behinderte nicht mehr lernen, in einer nicht-behinderten Gesellschaft zurechtzukommen.“ Aufgehoben in hoch professionellen Hilfesystemen entwickelten sie keine eigenen Problemlösungsstrategien. Bedauerlich sei auch, dass es kaum noch eine gemeinsame Sozialisation von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen gebe. Eltern hätten etwa Angst, dass nichtbehinderte Kinder durch behinderte Kinder in der Schule gebremst würden. Da es im Bildungssystem bereits hohe Barrieren für Menschen mit Behinderungen gebe, gebe es kaum qualifizierte Menschen mit Behinderungen. Dies wirke sich später am Arbeitsmarkt aus.

Betriebliche Netzwerke helfen Menschen mit Behinderungen

Andreas Moises, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertreter der Microsoft Deutschland GmbH in München, stellte hierzu fest: „Ich würde mir wünschen, dass sich Schwerbehinderte bei uns bewerben, aber wir haben keine einzige Bewerbung.“ Dabei sei das Bewusstsein in seiner Branche vorhanden, an einer barrierefreien IT werde gearbeitet. Leider würden jedoch die erweiterten Möglichkeiten der IT-Systeme kaum genutzt. Daher sei sein Appell auch an Kollegen und Kolleginnen: „Tragt es raus, macht es publik.“ Um das Thema „Inklusion“ bei Microsoft zu treiben, helfen weltweite Mitarbeiternetzwerke neben der institutionellen Schwerbehindertenvertretung.

Dem stimmte Alexander Simon, Schwerbehindertenbeauftragter der AOK Bayern zu. Rund 60 Schwerbehindertenvertreter an unterschiedlichen Standorten seien in der Krankenkasse eine starke Stimme für die rund 1000 schwerbehinderten Mitarbeiter*innen. Dabei sei die Vertretung nicht immer einfach. „Den meisten Menschen mit Behinderung merkt man nicht an, dass sie eine Behinderung haben, weil sie versuchen, nicht negativ aufzufallen.“ Behinderung werde leider oft nur als Makel wahrgenommen, was fragwürdig sei. „Ohne meine Behinderung wäre ich doch nicht so, wie ich bin.“

Behinderung ist ein Querschnittsthema

Einig waren sich die Referenten, dass „Behinderung grundsätzlich ein Querschnittsthema“ sei, wie Bannasch betonte. Wie herausfordernd dies sein kann, erlebt er in der LAG, die als Dachorganisation 110 Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen in Bayern vertritt. Es gebe nicht „den Menschen mit Behinderung, wie er im Buche steht.“, so dass es eine Aufgabe sei, gemeinsame Haltungen und Positionen aus der Vielfalt der Erfahrungen unterschiedlich Behinderter zu entwickeln. Weil Behinderung ein Querschnittsthema sei, betonte Utz, es gehe in seiner Arbeit als Ansprechpartner für Politik und Stadtgesellschaft vor allem darum, Strukturen zu verändern. „Von Leuchtturmprojekten halte ich nichts, weil sie die Strukturen nicht verändern.“

Foto: pexels, Marcus Aurelius

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