Der X – Faktor: Für eine geschlechtergerechte Medizin!

Nürnberg. Das Format „Themen-Talk“ von efb und kda fand im Oktober seine Fortsetzung. Das Thema Geschlecht und Gesundheit ist ein zunehmend wichtiges Thema in der Medizin und bei behandelnden Ärzten:innen und Pflegekräften. Fakt ist, Frauen und Männer sind unterschiedlich krank und müssen medizinisch auch unterschiedlich behandelt werden. Rund 20 Teilnehmerinnen aus Bayern und Deutschland informierten sich und diskutierten über genderspezifische Medizin.

Eine der führenden Vorkämpferinnen ist die US-amerikanische Kardiologin und Medizinwissenschaftlerin Marianne Legato, die bereits in den 1980er Jahren auf Unterschiede von Herzerkrankungen bei Frauen gegenüber Männern gestoßen war. In Deutschland begründete die Fachärztin für Kardiologie Vera Regitz-Zagrosek die Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin. Sie gab 2011 zusammen mit Sabine Oertelt-Prigione unter dem Titel „Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine“ ein englischsprachiges Lehrbuch heraus.

Referentin des Abends war Dr. med. Astrid Bühren, langjähriges Mitglied im Fachausschuss Gesundheitspolitik des Bayerischen Landesfrauenrates (BayLFR). Die in Murnau/Oberbayern niedergelassene Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erhielt die Auszeichnung „Mutige Löwin“ 2021 des Deutschen Ärztinnenbundes e.V. (DÄB) für ihre Zivilcourage im Zusammenhang mit der gleichberechtigten Teilhabe von Ärztinnen und ihr Engagement für die Gendermedizin. Sie war 1997 bis 2009 Präsidentin des DÄB und ist Ehrenpräsidentin des DÄB. Sie ist 2. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V..

Bei Risiken und Nebenwirkungen bitte nach dem Geschlecht fragen

Knapp und anschaulich nahm Frau Dr. Bühren die Teilnehmerinnen mit auf eine Entdeckungsreise zu verschiedenen Aspekten des „X-Faktors“. Bereits bekannt ist, dass Frauen bei Herzinfarkten auch Symptome zeigen können, die von den „lehrbuchmäßigen“ männlichen Symptomen abweichen. Eine fatale Folge ist, dass Herzinfarkte bei Frauen deutlich später oder gar nicht erkannt werden. Frauen kommen nach Herzinfarkten durchschnittlich nach 60 Minuten in der Klinik an, Männer nach 30 Minuten. Auch ist die Sterblichkeit bei Herzinfarkten bei Frauen höher als bei Männern.

In der Pharmakologie spielt das Geschlecht ebenfalls eine entscheidende Rolle: Frauen haben bei gleichem Körpergewicht eine höhere Alkoholkonzentration, da sie mehr Körperfett besitzen und dieses keinen Alkohol aufnimmt. Zugleich baut die weibliche Leber Alkohol langsamer ab, da sie weniger von dem Enzym ADH bildet. Männer haben zudem ein „Frühwarnsystem“: Hochprozentiger Alkohol induziert die ADH-Bildung bereits im Magen.

Darüber hinaus gibt es bei der Medikamenteneinnahme gewichtige Unterschiede: Eine erste geschlechtsspezifische Studie von 2002 konnte zeigen, dass das Herzmitttel Digitalis zwar für Männer eine Verbesserung hinsichtlich der Sterblichkeit brachte, bei Frauen jedoch eine Übersterblichkeit bei der Anwendung von Digitalis bestand. Auch bei den empfohlenen Richtlinien zur Anwendung von Antibiotika kommt es zu Ungenauigkeiten. Die Dosierungsangaben berücksichtigen bislang oft noch nicht einmal das Gewicht. Sie müssten aber nicht nur das Gewicht, sondern auch den unterschiedlichen Wasser- bzw. Fettanteil der Patienten*innen-Körper berücksichtigen, um Frauen und Männer effektiv zu therapieren. Eine weitere Untersuchung, die 48 Kohortenstudien für neue Arzneimittel auswertete, zeigte, dass Frauen fast doppelt so viele unerwünschte Arzneimittelwirkungen, also Nebenwirkungen, erlitten als Männer. So waren es bislang vornehmlich gesunde Männer im Alter zwischen 20 und 60 Jahren, die als Probanden und Testteilnehmer, die Medizin und Arzneimittel bestimmten.

Im Bereich der psychischen Gesundheit gibt es ebenfalls Unterschiede, zum Bespiel bei der Stressverarbeitung. Während Männer den Stress eher leugnen und bagatellisieren und häufiger zu Drogen, wie Alkohol, greifen, tendieren Frauen häufiger zum Ruminieren (Grübeln), was Depressionen verstärkt. Gleichzeitig aktivieren sie häufiger als Männer soziale Unterstützung.
Die Mortalität im Trauerjahr ist bei Männer bsp. signifikant höher. Auch steigt die Suizidrate bei Männern über 60 Jahre mit zunehmendem Alter steil an.

Was tun?

Medizinisch und sozial lohnt es sich also, genauer hinzuschauen und weiter zu forschen, denn es gibt viele Einflussfaktoren auf eine richtige Diagnose und erfolgreiche Therapie (wie Symptomatik, Risikofaktoren, Vorerkrankungen, Physiologie, Krankheitsverlauf, Ansprechen auf verschiedene Therapien). Eine gute Ausbildung des medizinischen Personals mit den neuesten Erkenntnissen kann Frauenleben – aber auch Männerleben retten!

In der Diskussion wurden auch die eigenen Möglichkeiten angesprochen, damit sich etwas ändert. Zum Beispiel durch Nachfragen bei den behandelnden Ärzte*innen, ob das Medikament, die Dosierung, die Therapie Männer und Frauen differenziert berücksichtigt oder geschlechtsspezifisch untersucht wurde und entsprechend für bedenkenlos für Frauen eingesetzt werden kann.

Welche Forderungen den Teilnehmerinnen an diesem Abend zum Thema geschlechtergerechte Medizin besonders wichtig waren, können Sie wie immer der „Wortwolke“ entnehmen.

Unter der Mitarbeit der Ev. Frauen in Bayern erhebt der Bayerische Landesfrauenrat folgende Forderungen an die Politik:

  • Die geschlechtergerechte Erprobung eines Medikaments soll Voraussetzung für dessen Zulassung sein.
  • Schaffung eines Lehrstuhls für geschlechtersensible / geschlechterspezifische Medizin an einer bayerischen Universität zur systematischen Verankerung geschlechterspezifischer Unterschiede in der medizinischen Ausbildung und Forschung;
  • Überarbeitung von Ausbildungsrahmenplänen und Lernzielkatalogen und Anpassung der medizinischen Leitlinien durch die zuständigen Fachgremien;
  • Erarbeitung von gendersensiblen und geschlechterspezifischen Standards im Hinblick auf Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation für die Berufe im Gesundheitswesen. Etablierung in der Aus- und Fortbildung;
  • Systematische Verankerung der gendermedizinischen Inhalte in der Weiterbildungsordnung durch die Landesärztekammer;
  • Erstellen eines bayerischen Gesundheitsberichts unter spezieller Berücksichtigung sowohl von Frauengesundheit als auch Männergesundheit durch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zur datengestützten Darstellung geschlechterspezifischer Faktoren in der Gesundheitsversorgung.

 

Für weitere Informationen:
„Forderungskatalog für die Berücksichtigung von geschlechterspezifischen und gendersensiblen Besonderheiten in der Medizin an die Politik“ unter https://www.lfr.bayern.de/aktuelles/50165/index.php

„Frauen müssen Frauenthemen voranbringen“ unter https://www.lfr.bayern.de/aktuelles/51251/index.php

Ethik, Frauen, Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheit

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