MÜNCHEN. Nach der Bundestagswahl am 26. September werden weitgehende Reformen am Hartz-IV-System erwartet. Aber wie könnte ein menschliches und zugleich effizientes Jobcenter aussehen? Im Rahmen des bundesweiten Projektes Jobcenter der Zukunft hat der kda Bayern Praxis-Expert*innen dazu befragt. Lesen Sie hier das Interview mit Diplom-Sozialpädagogin Heike Tempel vom Arbeitslosenzentrum München-Nord.
Wie sieht Ihr Kontakt zum Jobcenter aus, Frau Tempel?
Heike Tempel: Ich muss ein paar Vorbemerkungen machen. Unser Arbeitslosen-Zentrum liegt im Münchner Norden, also in einem Stadtgebiet, in dem die Anzahl der SGB-II-Empfangenden sehr hoch ist. Wir sind sehr örtlich verankert. Meine Erfahrungen beziehen sich zum Großteil auf das Jobcenter München Nord, mit einer für dieses Gebiet „typischen“ Klientel. Mehr als die Hälfte unserer Klientinnen und Klienten haben einen Migrationshintergrund, viele sind sehr bildungsfern. In den letzten Jahren kommen viele geflüchtete Menschen aus dem Iran, dem Irak, aus Syrien und aus afrikanischen Ländern zu uns in die Beratung. Die sind vielleicht schon fünf Jahre hier, sprechen oft schlecht Deutsch, verfügen kaum über rechtliche Kenntnisse, sind psychisch belastet und tun sich bei Bewerbungen schwer. Das heißt, sie haben mehrfache Vermittlungshemmnisse.
Sind Ihre Erfahrungen mit dem Jobcenter München Nord generell eher gut?
Prinzipiell gehe ich davon aus, dass die Jobcenter-Mitarbeitenden engagierte Leute sind, zum großen Teil auch freundlich, mit einem sehr großen Fachwissen. Sie haben nur oft zu wenig Zeit und haben mit ganz komprimierten Problemen zu tun, mit einer Klientel, die unglaubliche Vermittlungshemmnisse und Sprachschwierigkeiten hat. Ich gehe nie problembehaftet auf die Jobcenter-Mitarbeitenden zu. Das Jobcenter und ich, wir haben beide ein Interesse daran, einem Klienten zu helfen. Ich verbringe viel Zeit damit, meinen Klientinnen und Klienten nahezubringen, wie man mit dem Jobcenter kommuniziert: zuhören, ausreden lassen, nicht laut werden, angemessen sprechen, mitschreiben, nachfragen, die Jobcenter-Mitarbeitenden als Unterstützende sehen und nicht als Sanktionierende. Das ist ein großer Teil meiner Arbeit im Hintergrund: die Kommunikation zwischen Jobcenter und Erwerbslosen zu verbessern.
Gelingt das auch in verhärteten Konflikten zwischen Fallmanager und Klient? Können Sie da vermitteln?
Ich habe schon das Gefühl, dass sich da einiges wieder regeln lässt. Aber zu uns kommen natürlich eher die Fälle, bei denen es zwischen Klientel und Jobcenter nicht problemlos läuft. Letztens hatte ich einen Klienten, der bei mir saß und mit mir ganz angemessen und sehr freundlich sprach. Und dann erreichte ich die für ihn zuständige Mitarbeiterin vom Jobcenter und der Klient brüllte sie durch das Telefon an. Das war eine sehr eindrückliche Erfahrung. Ich hatte auch einmal eine Jobcentermitarbeitende am Telefon, die so unangemessen reagierte, dass ich das Telefonat beendete und mich an die Vorgesetzte wandte. Wir haben es dann schon wieder hingekriegt. So etwas ist mir aber in zwölf Jahren nur ein einziges Mal passiert.
Gibt es bestimmte Verfahren, Praktiken und Instrumente des Jobcenters, die Sie als besonders positiv bewerten würden?
Positiv ist das Kundenreaktionsmanagement. Ich habe das früher eigentlich nicht genutzt, weil ich keine Vorgehensweisen von Sachbearbeitern bzw. Sachbearbeiterinnen über Dritte kritisieren wollte. Aber seitdem mir klar ist, wie das System läuft, dass das Jobcenter zeitnah reagiert und dass man auch Lob hinschreiben kann, ist das schon ein Instrument, das ich jetzt nutze. Ich sage auch meinen Klientinnen und Klienten, dass sie es wirklich nutzen können. Auch das Teilhabechancengesetz finde ich gut, die Paragraphen § 16e oder § 16i im SGB II, durch die Menschen auf dem dritten Arbeitsmarkt längerfristig unterkommen. Das ist ein gutes Instrument, denn ich glaube, dass wir uns davon verabschieden müssen, dass alle Menschen hier in dieser digitalisierten Welt noch einen Arbeitsplatz finden. Ich glaube, wir müssen mal anerkennen, dass es vielleicht zwanzig Prozent gibt, die das nicht können. Bei denen geht es nicht mehr ums Vermitteln, sondern eigentlich ums Stabilisieren. Ich würde sagen, sämtliche Instrumente des Jobcenters, bei denen es nicht ums hundertprozentige Funktionieren in dieser Leistungsgesellschaft geht, sind sinnvoll, zum Beispiel auch die Teilzeitausbildung für alleinerziehende Mütter.
Wie sieht es mit dem Instrument der Sanktionen aus?
Ich bin in der Frage eine Skeptikerin, aber keine Gegnerin. Ich bin mir nicht sicher, ob wir komplett auf Sanktionen verzichten können und inwieweit sich dann die Menschen doch sehr entziehen würden. Wenn man alle möglichen Programme anbietet, aber die Sachbearbeiterin keinerlei Möglichkeiten hat, auf das Klientel einzuwirken, damit sie sich z.B. zumindest erst einmal über die Inhalte und die Sinnhaftigkeit der Qualifizierung informieren, dann ist das auch ein Verheizen von Zeit und Geld auf Seiten des Jobcenters.
Was stört Sie am Jobcenter?
Was mich am Jobcenter am meisten stört, ist die schwierige Erreichbarkeit. Ich darf datenschutzrechtlich nur Kontakt mit dem Jobcenter aufnehmen, wenn mein Klient, meine Klientin persönlich dabei ist, solange keine Datenschutzentbindung in der elektronischen Akte hinterlegt ist. Sprich, am Montag kommt ein Klient um 14.00 Uhr zum ersten Mal zu mir und ich muss dann zur Klärung des Sachverhalts eigentlich die Jobcentermitarbeitende erreichen. Das gelingt selten bis gar nicht. Ich kenne im Jobcenter persönlich niemanden der mir so richtig unangenehm ist. Was es da aber schon gibt, sind Mitarbeitende, die sehr strikt ihre Regeln befolgen und zum Beispiel darauf bestehen, dass alle Kontoauszüge immer lückenlos da sind. Dann denke ich mir, die sind auch im System gefangen, die müssen es halt eingeben in ihren blöden Computer. Da muss ich mich nicht herumstreiten, ob das sinnvoll ist, das ist halt systemimmanent. Da müsste man an dem System kratzen. Wobei es auch Mitarbeitende im Jobcenter gibt, die sich, wenn es nötig ist, einfach Spielräume nehmen und sagen: Okay, diesen Antrag winke ich vorläufig so durch, auch wenn noch nicht hundertprozentig alles da ist, da die aktuelle Not so groß ist. Das verlangt natürlich Mut und viel Berufserfahrung.
Begleiten Sie Klienten auch zum Jobcenter?
Nein. Da wir im Arbeitslosen-Zentrum nur zwei Teilzeitkräfte sind, ist das für uns nicht machbar. Das wäre für die Zukunft des Jobcenters sicher total sinnvoll, einen Lotsen- oder Lotsinnen-Dienst für die Arbeitslosengeld-II-Empfangenden einzurichten, die vermitteln und Ängste abbauen können. Das müsste eigentlich selbstverständlich sein. So wie die Kulturdolmetscher bei den Flüchtlingen. Es ist gut, wenn man jemanden mitnehmen kann zum Termin im Jobcenter, besonderes da bei unserem Klientel eine große rechtliche und sprachliche Unkenntnis vorliegt. Vier Ohren hören mehr als zwei, dann kann man nochmal gemeinsam Fragen stellen. Es sind dann nicht zwei Parteien, die sich kritisch gegenüberstehen, sondern man schaut gemeinsam, dass man da irgendwie eine Lösung findet.
Jetzt nenne ich Ihnen sieben kurze Aussagen zum Jobcenter und frage Sie, ob Sie zustimmen können oder nicht.
„Das Jobcenter fördert eine Angstkultur.“
Ja, das stimmt bei vielen, das ist aber ein strukturelles Problem.
„Das Jobcenter hilft Menschen wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen.“
Das sollte das Ziel sein.
„Sanktionen sind notwendig um grundlegende Regeln der gemeinsamen Arbeit einzuhalten.“
Dem stimme ich zum Teil zu.
„Kürzung am Existenzminimum verletzen die Menschenwürde.“
Ja.
„Wer seine Termine nicht einhält, hat die Grundsicherung wohl nicht wirklich nötig.“
Falsch. Das ist das neoliberale Menschenbild. Das ist viel zu kurzgefasst.
„Besuche vom Jobcentermitarbeiter bei den Kund*innen zu Hause können dem Jobcenter helfen, die Situation und die Bedürfnisse der Kund*innen besser zu verstehen.“
Das ist falsch, solange das Jobcenter Hausbesuche sehr als Kontrolle versteht und weniger als Unterstützung. Es hat immer dieses Ziel, etwas herausfinden und dann eventuell Leistungen zu kürzen. Solange das diesen Duktus hat, machen Hausbesuche als Hilfsangebot natürlich überhaupt keinen Sinn. Und selbst in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe wären sie schwierig. Ich würde auch nicht jeden reinlassen bei mir Zuhause.
„Einzelne schwarze Schafe missbrauchen das Hartz IV System, das ist aber kein Massenphänomen.“
Richtig. Ich erlebe es so: Die meisten in diesem Hartz-IV-System wollen da wieder weg, weil die Stigmatisierung unglaublich groß ist. „Du bist nichts, du hast nichts“. Ganz tief drinnen empfinden das die meisten so. Zum übergroßen Teil möchten die Leute arbeiten. Einige können aber aufgrund von psychischen oder physischen Beeinträchtigungen ihr Geld nicht mehr selbst verdienen. In unserer Leistungsgesellschaft ist für diese Personen kein Platz mehr. Einzelne haben manchmal auch eine etwas schwierige Art der Kommunikation, die oft sehr fordernd ist, aber da bedarf es dann ein bisschen methodischer Kompetenz. Man muss sie erst einmal annehmen, das ist eine Frage des Menschenbildes.
Wenn Sie das „Jobcenter der Zukunft“ bauen dürften, wie würde es aussehen? Welche Konstruktionsfehler würden Sie vermeiden?
Also ich würde es so bauen, dass ich die Menschen, die da arbeiten, erst einmal wirklich ausreichend und gut in diesem sehr komplexen und sich stetig verändernden Rechtsgebiet qualifiziere, sie anständig bezahle und auch die Fallzahlen so gestalte, dass sie mit ausreichend Zeit arbeiten können. Ich würde viel mehr Wert auf Pädagogik und Psychologie legen. Ich würde als oberstes Ziel des Jobcenters ausgeben, die Menschen zu unterstützen. „Jeder Mensch ist gleich wertvoll“, dieses Prinzip würde ich wahrscheinlich über das Jobcenter schreiben und auch das Handeln darauf abstellen. Alle sollten mit dem Gefühl aus diesem Jobcenter rausgehen „Aus mir kann doch noch etwas werden.“
Glauben Sie, dass die Corona-Krise das Jobcenter jetzt nachhaltig verändert? Ist das jetzt nur ein Ausnahmezustand oder können wir daraus was lernen?
Vielleicht merkt man, dass es für alle Beteiligten leichter wird, wenn ein Antrag auf Hartz IV nicht so eine Riesenhürde ist, wenn dieser zur Abwendung von existenziellen Krisen relativ schnell erst einmal genehmigt wird, so wie in der Coronakrise. Prinzipiell sollen natürlich die Menschen Geld vom Staat erhalten, die wirklich in Not sind. In der Coronazeit sind wir alle ins Nachdenken gekommen über unsere Werte, darüber was wirklich wichtig ist. Dass sich da ein bisschen was verschoben hat, das ist meine Hoffnung.
Vielen Dank für das Interview!
Interview: Philip Büttner, wissenschaftlicher Referent, kda Bayern
Hinweis: Unsere Online-Fachtagung vom 25. Juni 2021 mit Jobcenter-Expert*innen, Hartz-IV-Beziehenden und Bundestagsabgeordneten ist hier dokumentiert: Jobcenter der Zukunft – Existenzsicherung neu denken. Die Veranstaltung war eine Kooperation unseres Bundesverbandes KWA und der Diakonie Deutschland.
(Foto: kda Bayern)