Rehm: „Eine Kirche ohne Arbeiter ist nicht mehr die Kirche Jesu Christi!“

NÜRNBERG. Johannes Rehm stellt im Jahrbuch Sozialer Protestantismus kritische Rückfragen zu den aktuellen Reformen der Kirche. Der Leiter des kda Bayern warnt vor Entwicklungen hin zu einer bürgerlichen Kirche von Besserverdienenden

Krisen – Aufbrüche – Transformationen

Kirche muss sich ständig ändern. Das ist ein grundlegendes Anliegen der Reformation. Derzeit erlebt die evangelische Kirche allerdings einen regelrechten Reformstress durch rückläufige Mitgliederzahlen, demografischen Wandel und einbrechende Kirchensteuern – und das alles noch zusätzlich verschärft durch die Coronakrise. In diesen Umbruchszeiten droht die Volkskirche, eine ihrer Mitgliedergruppen zu verlieren, nämlich die einfachen Arbeiter*innen und Angestellten, befürchtet Johannes Rehm, der Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt Bayern. Sein Aufsatz „Kirche ohne Arbeiter?“ ist im aktuellen Jahrbuch Sozialer Protestantismus erschienen. Der Band widmet sich unter der Überschrift „Krisen – Aufbrüche – Transformationen“ der Kirche im Wandel. Neben Rehms kritischem Einwurf enthält er weitere kirchensoziologische Beiträge, die den laufenden Kirchenreformen wertvolle Impulse geben können.

Arbeiter – gibt es die überhaupt noch?

Die Überschrift „Kirche ohne Arbeiter?“ führt schnell zu einer Gegenfrage: Gibt es heutzutage überhaupt noch Arbeiterinnen und Arbeiter im engeren Sinne? Antwort: Ja, wenn auch weniger als früher. Unter den Kirchenmitgliedern machen sie immerhin noch ein Fünftel aus. Doch wie Rehm darlegt, ist diese einst größte Erwerbstätigengruppe seit den 50er Jahren rapide geschrumpft. Zugleich haben sich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen so verbessert, dass von einem scharfen Klassengegensatz, wie er besonders in den 50er bis 70er Jahren die kirchliche Industrie- und Sozialarbeit beschäftigte, heute nicht mehr die Rede sein kann. Damit ist die Arbeiterfrage allerdings nicht passé, argumentiert Rehm. Sie stellt sich heute nur anders. Die der klassischen Arbeiterfrage zugrunde liegenden sozialen Spaltungen sind weiterhin vorhanden, nur differenzierter und weniger mit dem formalen Status „Arbeiterin“ oder „Arbeiter“ verknüpft.

Die „Arbeiterschicht“ ist in der Kerngemeinde unterrepräsentiert

Heute gibt es einerseits Facharbeiter, die sich selbst zur Mittelschicht zählen. Anderseits gibt es ungesicherte Angestellte und prekäre Kleinunternehmerinnen, die sich subjektiv der Arbeiter- oder sogar Unterschicht zugehörig fühlen. „Für die Kirche lautet die Frage somit nicht nur, ob sich zum Beispiel Bauhelfer oder Fließbandarbeiterinnen in Kirchengemeinden wohlfühlen, sondern ebenso, ob dort Paketboten, Security-Mitarbeiterinnen oder Arbeitslose anzutreffen sind,“ schreibt Rehm. Er zeigt anhand empirischer Daten aus den Kirchenmitgliedschaftsstudien, dass Menschen, die sich selbst einer solchen weit gefassten „Arbeiterschicht“ zuordnen (26 Prozent der Bevölkerung), unter den evangelischen Kirchenmitgliedern unterrepräsentiert sind (mit 18 Prozent). Noch geringer ist ihre Repräsentanz in der evangelischen Kerngemeinde (13 Prozent). Überrepräsentiert sind in der evangelischen Kirche dagegen die Mittelschicht und besonders die obere Mittelschicht.

Ähnliches belegt auch ein anderer Beitrag des Jahrbuchs: Die Soziologin Hilke Rebenstorf stellt darin eine Repräsentativbefragung von Kirchenmitgliedern und Nicht-Kirchenmitgliedern vor, laut der die Angehörigen der Arbeiterschicht mit nur halb so hoher Wahrscheinlichkeit wie Angehörige der Mittelschicht überhaupt eine Vertreterin oder einen Vertreter der örtlichen Kirchengemeinden kennen.

Eine Kirche der Besserverdienenden ist keine Alternative

Muss sich die Kirche damit abfinden? Muss sie den Anspruch aufgeben, Menschen aller Milieus und Schichten zu erreichen? Rehm kommt in seinem Beitrag zu einer klaren, theologisch begründeten Antwort: Der Anspruch der Volkskirche ist unaufgebbar. „Eine rein bürgerliche Kirche der Besserverdienenden ist keine Alternative. Eine ‚Kirche ohne Arbeiter‘ wäre nicht mehr die Kirche Jesu Christi.“

Dabei sind aus seiner Sicht frühere Instrumente kirchlicher Arbeitnehmerarbeit heute nicht mehr in selber Weise geeignet, die heutige „Arbeiterschicht“ in ihrer Lebenswirklichkeit anzusprechen. Rehm  plädiert für einen seelsorglich-pfleglichen Umgang mit den verbliebenen Gruppierungen evangelischer Arbeitnehmerarbeit, aber auch für neue themen- und projektbezogene Zugänge. Außerdem müssen alle Glieder der Kirche die aktuellen Reformen in der Kirche auch mitgestalten können. „Die Stimmen der einfachen Arbeiter und Angestellten im Kirchenvolk kann man in diesem Prozess kaum vernehmen“, warnt der Nürnberger Theologe.

Literatur-Tipp

Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2019. Krisen – Aufbrüche – Transformationen. Zur Sozialität der Evangelischen Kirche, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig

Mit Texten von Petra-Angela Ahrens, Bendix Balke, Tobias Faix, Eberhardt Hauschildt, Florian Höhne, Traugott Jähnichen, Rebekka Klein, Andreas Mayert, Klaus Raschzok, Johannes Rehm, Ulrich Riegel, Gunther Schendel, Hilke Rebenstorf, Jürgen Schönwitz, Claudia Schulz, Gerhard Wegner, Peter Zimmerling, Thomas Zippert u. a.

404 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-374-06450-2, Preis: 48 €/Stück zzgl. Porto

Dieser 12. Band der Reihe Jahrbuch Sozialer Protestantismus ist seit diesem Frühjahr 2020 im Buchhandel erhältlich. Er kann auch direkt über den Verlag erworben werden.

Titelbild:  Dr. Johannes Rehm, Leiter des kda Bayern (Foto: kda Bayern)

 

Arbeitnehmende, Kirche, Wandel der Arbeitswelt, Arbeitsbedingungen

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