„So lässt sich Ausgrenzung nicht verhindern!“ – Interview mit Dr. Irene Becker

MÜNCHEN. Ab dem 1. Januar 2021 wird es ein neu berechnetes Existenzminimum in Deutschland geben. Im Herbst soll der Bundestag beschließen, wie viel Unterhalt armen Menschen in Hartz IV oder in der Altersgrundsicherung zugestanden wird. Berechnungen aus dem BMAS, die nur eine minimale Steigerung gegenüber dem jetzigen Niveau vorsehen, rufen bereits scharfe Kritik von Erwerbslosenverbänden und Sozialexpert*innen hervor. Philip Büttner, wissenschaftlicher Referent beim kda in München, sprach mit der Volkswirtin Irene Becker über die Probleme und Rechenfehler bei der Ermittlung des Existenzminimums.

Sehr geehrte Frau Dr. Becker, Sie untersuchten kürzlich im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen, wie weit der Lebensstandard der Grundsicherungs-Empfänger*innen von der gesellschaftlichen „Normalität“ entfernt ist. Zu welchen Ergebnissen kamen Sie?

Irene Becker: Die Ergebnisse sind erschreckend. Mit den derzeitigen Regelsätzen werden bei den Alleinlebenden Konsumausgaben von nur gut einem Drittel des Vergleichswerts in der gesellschaftlichen Mitte ermöglicht. Bei Paaren mit einem Kind liegt das Niveau bei knapp der Hälfte des mittleren Konsumstandards. Das den Grundsicherungsbeziehenden zugestandene Geld für soziokulturelle Teilhabe summiert sich sogar auf nur 20 Prozent bzw. 30 Prozent dessen, was Haushalte mit mittlerem Einkommen dafür ausgeben. So lässt sich Ausgrenzung nicht verhindern! Zudem fehlt infolge willkürlicher Kürzungen jeglicher Bezug zur gesellschaftlichen Realität. Es lässt sich nämlich keine Gruppe im unteren Einkommensbereich – nach Ausschluss der Anspruchsberechtigten selbst – statistisch nachweisen, die auf einem derart niedrigen Niveau lebt. Das Rechenverfahren basiert also nicht auf realen Gegebenheiten – die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „Ausrichtung am Entwicklungsstand des Gemeinwesens und an den bestehenden Lebensbedingungen“ ist nicht erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist eine Reform der Regelbedarfsermittlung überfällig.

Existenzminimum lässt keinen Spielraum in Coronazeit

Auch die aktuelle Coronakrise deckt Lücken in der deutschen Grundsicherung auf. Viele Menschen, die von Hartz IV oder der Grundsicherung im Alter leben, kommen mit ihrem Geld derzeit noch schlechter über die Runden als sonst. Müsste der Gesetzgeber mit einer Erhöhung der Grundsicherung reagieren?

Becker: Sie haben Recht mit der Feststellung, dass Grundsicherungsbeziehende in der derzeitigen Krise mit besonderen Problemen zu kämpfen haben. Zwar sind auch andere Bevölkerungsgruppen von steigenden Preisen, z. B. für Nahrungsmittel, und zusätzlichen Kosten durch besondere Hygiene- und Schutzmaßnahmen betroffen. Sie haben aber meist einen – zumindest kleinen – finanziellen Puffer. Demgegenüber fehlt bei Haushalten, die mit Geldleistungen der Grundsicherung auskommen müssen, jeglicher Spielraum, um mit besonderen Belastungen zurecht zu kommen. Denn die Regelleistungen sind derart „auf Kante genäht“, dass ohnehin an der Angemessenheit zur Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums gezweifelt werden muss. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich 2014 in diesem Sinne geäußert: Es sieht den Gesetzgeber an der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist“ (Rn. 121). Vor diesem Hintergrund müsste der Gesetzgeber das reguläre Grundsicherungsniveau um einen Krisenzuschlag erhöhen. Dies entspräche auch der im gleichen Urteil des Bundesverfassungsgerichts geäußerten Forderung, dass unvermittelt auftretende Preissteigerungen zeitnah berücksichtigt werden müssen (Rn. 144). Wie hoch der Krisenzuschlag ausfallen müsste, ist zwar eine schwierige aber dennoch lösbare Frage.

Sie haben die Höhe der Grundsicherung schon vor der Pandemie kritisiert und viel beachtete Gutachten dazu verfasst. Was sind Ihre wichtigsten methodischen Kritikpunkte an der Berechnung des Existenzminimums?

Zwei unvereinbare Rechenmodelle werden vermischt

Becker: Die Bundesregierung beruft sich bei ihren Berechnungen auf die empirisch-statistische Methode, das so genannte Statistikmodell, das m. E. durchaus zur Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums geeignet ist. Man definiert dabei eine Referenzgruppe im Niedrigeinkommensbereich und leitet von deren Konsumausgaben ab, was ein jeder Mensch mindestens zum Leben braucht. Die Umsetzung dieser Methode durch das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales krankt allerdings insbesondere in zweierlei Hinsicht. Erstens führt die Art der Definition des unteren Einkommensbereichs, aus dessen Ausgaben auf das Notwendigste geschlossen werden soll, zwangsläufig zu Zirkelschlüssen. Denn die derzeitige Abgrenzung bezieht sich auf die Grundsicherungsschwelle, die aber Gegenstand der Prüfung ist. Zweitens – und das wirkt sich stärker auf das Regelsatzniveau aus – werden die Ausgaben der Referenzgruppe um zahlreiche Einzelpositionen gekürzt. Dies ist mit der gewählten Methode unvereinbar. Denn Streichungen nach dem Motto „Ein Adventskranz gehört nicht zum Existenzminimum!“ entsprechen der Zusammenstellung eines Warenkorbs – ein Unding im Rahmen des Statistikmodells.

Weshalb ist das ein Unding?

Becker: Die Anwendung des Statistikmodells bedeutet die Summierung von unechten Durchschnittsausgaben. Deren Höhe ist von so genannten Nullfällen beeinflusst, die Einzelpositionen fallen also geringer aus als die faktischen Kosten bei den Haushalten, die die entsprechende Ausgabe tatsächlich hatten. Die Summe dieser unechten Durchschnitte kann als Schätzwert des soziokulturellen Existenzminimums durchaus akzeptiert werden. Wenn allerdings nachträglich noch eine Zusammenstreichung zu einem „regelbedarfsrelevanten“ Warenkorb vorgenommen wird, führt das Statistikmodell zu Ergebnissen, die nicht mehr realitätsgerecht sind. Die Warenkorbmethode erfordert die Bewertung der einzelnen Bestandteile mit echten Durchschnitten bzw. mit den tatsächlichen Kosten – auf der Basis von unechten Durchschnittsausgaben wird das Existenzminimum systematisch unterschätzt.

Regelbedarf ohne Streichungen

Was muss die Bundesregierung konkret verbessern, wenn sie zum 1.1.2021 neue Regelbedarfe ermittelt?

Becker: Für die Neukonzipierung eines methodisch sauberen Verfahrens ist es zu spät, denn die Auswertungen der zentralen Datenbasis – der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 – durch das Statistische Bundesamt sind abgeschlossen. Der Gesetzgeber könnte aber von den Streichungen einzelner Ausgabenpositionen absehen und die Ausgaben des Niedrigeinkommensbereichs weitestgehend im Regelbedarf berücksichtigen – selbstverständlich ohne Kosten der Unterkunft, die ja gesondert erstattet werden. Analog zu den Wohn- und Heizkosten könnte er mit dem neuen Gesetz auch die Stromkosten anders als bisher regeln – nämlich außerhalb des Regelbedarfs durch Übernahme der Kosten in der tatsächlichen Höhe.

In welchen Haushaltskonstellationen wirken sich die Mängel der Grundsicherung besonders stark aus? Bei Familien mit Kindern? Bei Alleinstehenden?

Becker: Auf den ersten Blick scheinen die Alleinstehenden von den Unzulänglichkeiten besonders betroffen zu sein. Denn deren Regelbedarf wird aus den Ausgaben einer ärmeren Gruppe – der unteren 15% dieses Haushaltstyps – abgeleitet als der der Kinder und Jugendlichen, für die die unteren 20% der Paare mit einem Kind maßgeblich sind. Da aber der elterliche Bedarf wiederum aus dem Regelbedarf der Alleinstehenden abgeleitet wird, wirkt sich dessen besonders restriktive Berechnung auch auf die Familien mit Kindern aus. Von den Streichungen einzelner Ausgabenpositionen werden aber alle Haushaltstypen gleichermaßen beeinträchtigt. Die negativen Folgewirkungen unzureichender Teilhabemöglichkeiten könnten allerdings bei Kindern und Jugendlichen besonders gravierend sein.

Höhere Grundsicherung würde auch der Mittelschicht nutzen

Wie kann es sein, dass 15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV trotz Kritik vom Bundesverfassungsgericht und sogar von den Vereinten Nationen immer noch keine überzeugende Berechnungsmethode angewendet wird? Wird das Existenzminimum absichtlich kleingerechnet?

Becker: Nach meiner Beobachtung gibt es mehrere Gründe für das Festhalten an dem unzulänglichen Verfahren der Regelbedarfsermittlung – die aber letztlich zusammenhängen. Eine Ursache sehe ich in dem verbreiteten Unverständnis der Grundlagen des Statistikmodells, so dass es ein Leichtes ist, die Schwächen der aktuellen Berechnungsweise verborgen zu halten. Den wesentlichsten Grund sehe ich aber in der Zielhierarchie der politischen Akteure, die letztlich die Einstellungen großer Wählergruppen spiegelt: Fiskalpolitische Ziele – die schwarze Null, keine Steuererhöhungen – rangieren vor Aspekten des sozialen Ausgleichs und der faktischen Chancengerechtigkeit. Demzufolge beschränkt man sich in der Grundsicherung auf das, was verfassungsrechtlich gerade noch akzeptiert wird. Dabei wird von weiten Teilen der Mittelschicht wahrscheinlich übersehen, dass eine höhere Grundsicherung auch ihnen zugutekäme – nämlich als entsprechend höherer Grundfreibetrag in der Einkommensbesteuerung. Der derzeitige Vorrang kurzfristiger Haushaltsziele kann auch darauf zurückgeführt werden, dass die gesellschaftlichen Gefahren, die von der Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen ausgehen, nicht allgemein bewusst sind.

Zur Person:

Die Ökonomin Dr. Irene Becker beschäftigt sich mit Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung, Armut und Reichtum. Schwerpunkte ihrer Arbeiten sind die verdeckte Armut, die Regelbedarfsermittlung sowie das Konzept der Kindergrundsicherung.

Irene Becker wird am 16. Oktober 2020 (13:30 bis 16:00 Uhr) bei einem Online-Hearing der kirchlich-gewerkschaftlichen Initiative „Rechte statt Reste“ als Referentin auftreten. Thema der Veranstaltung: „Armut in Deutschland als Menschenrechtsfrage.“ Wer Interesse hat teilzunehmen, schreibt bitte eine Mail an: kda.muenchen@kda-bayern.de

(Titelbild: Irene Becker)

 

Armut, Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeit, Ethik

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