Unter der Wasserlinie

Viele im Hintergrund sieht man nicht, denke ich mir beim Abbau des Messestandes. Drei Tage „Glamour“, Lärm, buntes Treiben. Das Davor und Danach in den sterilen Messehallen bemerkte man nicht, wenn man über den „Markt der Möglichkeiten“ während des Kirchentages schlenderte.

Ich muss an eine Begegnung in Hamburg vor einigen Wochen denken. Ich hatte ein Treffen mit Mark Möller ausgemacht. Er ist Diakon der Flussschifferkirche zu Hamburg. Diese ehemalige Barkasse, die nun als Kirchenschiff fungiert, liegt passend ein wenig abseits des großen Trubel inmitten von reparaturbedürftigen Barkassen und kleineren Kähnen.

Viele im Hintergrund sieht man nicht.

In unserem Gespräch ging es um die Arbeitsbedingungen am Hafen und in den Containerterminals. Irgendwann kamen wir auch auf die riesigen Containerschiffe zu sprechen, als Mark mir etwas sagte, was lange in mir nachschwang:

Es gibt Schiffe, die sind so groß, da sieht der Kapitän Teile seiner Mannschaft erst wieder, wenn sie an Land gegangen sind. Der Weg vom Bug zum Heck ist einfach zu weit.

Gleiches gilt auch für manche Kreuzfahrtschiffe. Viele Menschen werden gebraucht, damit Tourist*innen an Bord einen unbeschwerten Urlaub verbringen können. Mark erzählte mir, dass es immer noch Kreuzfahrtschiffe gibt, bei denen die Beschäftigten kein Tageslicht sehen. Ihr Arbeitsplatz und ihre Kajüten sind unterhalb der Wasserlinie, abgeschottet von den Tourist*innen.

Viele im Hintergrund sieht man nicht…

Diese Gedanken kamen mir auf dem Kirchentag bei den Messebauer*innen und den Staplerfahrer*innen. Sie kamen mir bei den LKW-Fahrer*innen, die das ganze Material rund um den Kirchentag anlieferten, bei den Ton- und Lichttechniker*innen im Einsatz bei den unzähligen Podien, Konzerten und Talkrunden. Sie kamen mir bei den Menschen an den Pforten, denen die den Müll der Besucher*innen wegräumten und bei denen, die im Catering beschäftigt sind, um die tausenden von Besuchern satt zu bekommen. Sie kamen mir auch bei den Pfadfinderinnen und Pfadfinder, die an den Parkplätzen geduldig in der prallen Sonne immer und immer wieder freundlich auf die Park- und Zufahrtsregeln hinwiesen.

Sie alle waren irgendwie „Mitarbeiter*innen unter der Wasserlinie“.

Ich muss immer wieder an die Begegnung mit Mark in Hamburg denken, daran, wie er mir erzählte, was diese „Menschen unter der Wasserlinie“ bewegt, wie er und viele andere als „Kirche“ versuchen, mit diesen Menschen in Kontakt zu kommen. Ich musste an seine Frage denken, was diesen Menschen Halt geben kann, eine Hoffnung gibt. Wir sind bei unserem Gespräch in Hamburg auch immer wieder auf die Jahreslosung für 2023 gekommen.

Im 1. Buch Mose 16,13 steht da:

„Du bist ein Gott, der mich sieht“

Das, so hörte ich, wäre für viele ein großer Zuspruch. Ein Satz, der den „Menschen unter der Wasserlinie“ Halt und Hoffnung gibt.

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Wie passt das dazu, dass man viele im Hintergrund nicht sieht?

Ich mag den Satz im Buch Mose sehr. Ein Gott, der mich sieht. So wie ich bin und vor allem auch da, wo ich bin. In meiner Lebenswirklichkeit. Aber – und ein Aber kommt immer – heißt das dann für mich als Christ, dass ich davon „befreit“ bin, den oder die andere zu sehen?

Auf dem Kirchentag habe ich wieder erleben können, wie wichtig und richtig es ist, dem Gegenüber freundlich, ehrlich und auf Augenhöhe zu begegnen. Eine Begrüßung, ein „Guten Morgen“ oder „Schönen Abend noch“. Ein Anstehen und Warten, ein „Vielen Dank für Ihre Arbeit!“, wenn jemand den Mülleimer wegbringt, den man selbst gerade befüllt hat. Ein Dankeschön an den Tontechniker nach einer Talkrunde auf dem Podium. Das Gegenüber sehen. Wahrnehmen. Ernst nehmen. Und es nicht nur dabei belassen.

Wie war das Motto des Kirchentages? Jetzt ist die Zeit? Ja, jetzt ist die Zeit, die „Menschen unter der Wasserlinie“ zu sehen, sie gerecht zu bezahlen, ihnen berechtigte Wertschätzung und Anerkennung zukommen zu lassen, ein Mindestmaß an Anstand zu zeigen ihnen gegenüber, die überhaupt erst so vieles ermöglichen.

Warenhandel, Tourismus, Festivals, Kirchentage und etliches mehr – die hier tätigen Menschen müssen gesehen werden. Das ist der Auftrag an mich als Christ aus diesem Satz „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Ich habe der Mensch zu sein, der den anderen sieht.

Viele im Hintergrund sieht man nicht. Zeit, dass sich das ändert. Und die Veränderung beginnt mit mir. Fangen wir einfach an.

Denn: Jetzt ist die Zeit.

Bleiben Sie behütet. Bleiben Sie menschlich.

Diakon Ulrich Gottwald

Gerechtigkeit, Arbeitsbedingungen, Geistliches

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