Auf sich und andere aufpassen – Gespräch mit Betriebsseelsorgerin Jessica Tomkin

MÜNCHEN. In Deutschland ereigneten sich im vergangenen Jahr über 790.000 Arbeitsunfälle, davon über 400 mit Todesfolge. Beschäftigte in Bauberufen sind statistisch betrachtet besonders gefährdet. Ein Gottesdienst an der zweiten Stammstrecke in München erinnerte daran.

Am 27. April waren die Beschäftigten der DB-Großbaustelle an der Donnersberger Brücke nach Feierabend in die Werkstatthalle zum Gottesdienst eingeladen. Auch Philip Büttner und Roland Hacker vom kda Bayern waren als Gäste dabei. Den Anlass zu diesem besonderen Gottesdienst gab der Workers´ Memorial Day. „Das ist der internationale Gedenktag für die Menschen, die bei der Arbeit verstorben oder verunfallt oder aufgrund Ihrer Arbeit langfristig erkrankt sind. Er erinnert an diese Menschen und möchte sie ins Zentrum setzen. Zum einen zum Gedenken und zum anderen, um aufmerksam zu machen, dass man wirklich Acht gibt bei der Arbeit auf die Sicherheit bei sich und anderen“, sagt Pastoralreferentin Jessica Tomkin.

Friedenslied in der Werkstatthalle

Tomkin arbeitet seit einem Jahr für die katholische Betriebsseelsorge der Erzdiözese München und Freising auf der Baustelle. „Ich hatte davon gelesen, dass es diesen Tag gibt, und mir gedacht, es wäre ein toller Anlass, um hier auf der zweiten Stammstrecke diesen Gedenktag zu etablieren“, sagt sie. Daraufhin habe sie sich „Mitspieler“ gesucht und ist auf Betriebsräte und die Gewerkschaft zugegangen.

Über fünfzig Personen kamen zum Gottesdienst: Arbeiter, Betriebsräte, Sicherheitsbeauftragte, Gewerkschafter, Vertreter der Deutschen Bahn und der ausführenden Firmen. In vier Sprachen begrüßte Jessica Tomkin die Anwesenden. Zum Gedenken wurde eine Kerze mit der Aufschrift „Workers´Memorial Day“ in der Werkhalle entzündet und vorbei an Bierzeltgarnituren zum improvisierten Altar nach vorne gebracht. Auf einem Liedblatt waren die gesprochenen Gebete und auch die Predigt in Polnisch und Türkisch abgedruckt.

Jessica Tomkin hielt die Predigt in ihrer neuen Berufskleidung. In reflektierender Sicherheitsjacke und Sicherheitsschuhen nahm sie Bezug auf einen Vers im Lukasevangelium und zeigte dabei anschaulich auf, wie der Dreierschritt „Stoppen – Denken – Handeln“, der für die Arbeit und Sicherheit von großer Bedeutung ist, von Jesus selbst umgesetzt wurde. Eine ergreifende Stimmung kam in der Werkhalle auf, als das bekannte Friedenslied „Hewenu shalom alechem“ in fünf Sprachen miteinander gesungen wurde. Im Anschluss an den Gottesdienst wurde der Grill angeschürt und alle Gäste zu Essen und Getränken eingeladen.

Unfallstatistiken und Achtsamkeit im Alltag

Sicherheit ist gerade auf dieser Großbaustelle, auf der 2021 bei den Arbeiten eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg detonierte, ein stark beachtetes Thema. Damals gab es vier Verletzte, jedoch Gott sei Dank keine Todesopfer zu beklagen. „Das Thema Unfall ist hier auf der Stammstrecke präsent. Statistiken rechnen vor, wie viele Menschen bei solchen Projekten verunglücken“, sagt Jessica Tomkin.

Aber es gehe vor allen Dingen einfach darum, im alltäglichen Umgang miteinander aufeinander zu achten und füreinander da zu sein. Es gebe auch Dinge, die nicht sofort zu schweren Unfällen führen, aber langfristige Folgen haben können, wie zum Beispiel ein ungenügender Sonnenschutz für die Haut. Hier auf der Baustelle werde viel Wert auf Sicherheit gelegt, sagt die Betriebsseelsorgerin. Es gibt Schulungen für die Arbeiter und immer wieder den Hinweis: Schau hin, pass auf dich auf! Gib auf dich und die anderen Acht!

„Hier bin ich an der richtigen Stelle!“

Als Betriebsseelsorgerin begleitet Jessica Tomkin ein Stück weit das Leben der Menschen auf dieser Baustelle. Sie geht auf die zum großen Teil ausländischen Beschäftigten zu, ist in den Pausen für sie da und fragt, wie es ihnen geht. Sprachbarrieren überwindet sie mit einer Handy-App. Die Kontakte und das Vertrauen entstehen allerdings nicht sofort, es braucht Zeit. „Allmählich wissen sie, wer ich bin und es entwickeln sich mittlerweile auch Gespräche, wo ich merke, dass ich hier an der richtigen Stelle bin“, sagt Jessica Tomkin.

Foto und Bericht: Diakon Roland Hacker, Fachstelle Kirche + Handwerk im kda Bayern

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