Nürnberg. Am sogenannten Bürgergeld scheiden sich noch immer die Geister. Eine erste Bilanz zogen Expert*innen aus Arbeitsagentur, Kirche, Politik und Wissenschaft am 8. Juni 2023 im Historischen Rathaussaal der Stadt Nürnberg auf dem Podium „Das neue Bürgergeld – Fortschritt oder Rückschritt?“ Die Veranstaltung der vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) organisierten Reihe „Nürnberger Gespräche“ fand im Rahmen des „Thementags Arbeitswelt“ auf dem Evangelischen Kirchentag statt.
„Keine Wunder erwarten“, mahnte der frühere Bundesminister Hermann Gröhe (MdB), Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, gleich zu Beginn des Podiums an. Das Bürgergeld sei Gegenstand hitziger Diskussionen gewesen und letztlich ein in seinen Augen zufriedenen stellender Kompromiss. Vor den gut gefüllten Reihen des Historischen Rathaussaals diskutierten neben ihm Dr. Regine Schmalhorst, Geschäftsführerin des Bereichs „Förder- und Geldleistungen“ in der Bundesagentur für Arbeit und ehemalige Geschäftsführerin des Jobcenters Dortmund, Prof. Dr. Ulrich Walwei, Vizedirektor des IAB und Honorarprofessor am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg, sowie Peter Lysy, stellvertretender Leiter des kda Bayern (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) und Pfarrer.
Auch Ulrich Walwei rief in Erinnerung wie wichtig es sei, das Bürgergeld nicht zu überfordern, denn es könne nicht alle gesellschaftlichen Missstände reparieren. Er verwies auf die Bedeutung des Bildungssystems, das Grundlagen lege, damit Menschen gar nicht erst auf Unterstützung angewiesen seien. Peter Lysy pflichtete dem bei und verwies auf die gesellschaftliche Bedeutung der Care Arbeit. Förderung und Stärkung im Kindes- und Jugendalter seien nicht zuletzt die Ergebnisse oft unbezahlter erfolgreicher Care Arbeit.
„Es wird deutlich, worauf wir alle setzen, auf unbezahlte Care Arbeit, die nirgends beziffert ist, die in den Familien stattfindet. Und an diesem Beispiel wird deutlich, was es kostet, wenn der Staat Teile dieser Care Arbeit übernimmt.“
Einig war sich die Runde darin, dass das neue Bürgergeld trotz vorhandener Kritikpunkte eine Verbesserung zum umstrittenen Vorgänger Arbeitslosengeld 2 (bekannt als „Hartz 4“) darstelle. „Einiges, was uns während der Arbeitsvermittlung wichtig war, hat nun Eingang in das Bürgergeld gefunden“, so Dr. Regine Schmalhorst. Als Beispiele nannte sie u.a. Fortschritte bei Digitalisierung und einfacherer Sprache.
Er müsse ein wenig „Wasser in den Wein gießen“, mahnte Peter Lysy an und verwies auf die teilweise abwertende Rhetorik in der öffentlichen Debatte (Stichwort: „soziale Hängematte“). Generell rief er in der Debatte rund um Coaching, Sanktionen und Vermittlungsvorrang immer wieder die Perspektive der Betroffenen in Erinnerung:
Wie schauen wir eigentlich auf die Menschen, die im Bürgergeld sind? Schauen wir defizitorientiert oder schauen wir auf sie als Menschen, die mit ihren Gaben etwas einzubringen haben?“
Die konkreten Erfahrungen des kda Bayern mit der Zielgruppe des Bürgergeldes brachte er über anschauliche Beispiele z.B. aus den Projekten der Aktion „1plus1“ mit langzeitarbeitslosen Menschen und Jugendlichen ohne Schulabschluss ein.
Für weiteren konkreten Praxis-Bezug des hochkarätig besetzen Expert*innen-Gremiums sorgten nicht zuletzt die differenzierten Wortmeldungen aus dem Publikum. Die engagierten Stimmen aus dem Publikum berichteten anschaulich aus ihrer Erfahrung als langjährige Arbeitslosengeld-Bezieher, Sozialarbeiter in diakonischen Einrichtungen oder Arbeitsvermittler*innen mit täglichem Kontakt mit Betroffenen. Sie bereicherten die von Oberbürger Marcus König eröffnete Veranstaltung um wichtige Expert*innen-Stimmen.
Das Podium wurde als Livestream übertragen. Dieser Mitschnitt kann online angeschaut werden unter:
Video auf dem YouTube-Kanal des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)
Bilder: IAB