Gemeinschaft leben

Wie wollen wir miteinander leben? Wie sollen Menschen einander begegnen? Wer sind wir füreinander?

Auf diese grundlegenden Fragen menschlichen Zusammenlebens, die sich immer wieder neu stellen, gibt der Tag der Arbeit am 1. Mai eine konkrete und engagierte Antwort: „Ungebrochen solidarisch“.

In diesem Motto des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) finde ich mich als Christ auf dem Hintergrund unserer jüdisch-christlichen Glaubenstradition sehr gut wieder. Die Haltung zwischenmenschlicher Solidarität hat weit zurückreichende Wurzeln in die alttestamentliche Prophetie:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Micha 6, 8

Die Lutherübersetzung gibt den hebräischen Urtext unvollkommen wieder. „Fordern“ ist im Deutschen zu grob für das, was im Hebräischen steht; besser übersetzt man: „Es ist dir gesagt, Mensch, was der Herr bei dir sucht, was er von dir erwartet.“

Aber es bleibt schon dabei: Gott weiß besser als wir, was gut für uns ist. Gut für uns ist seine Weisung für unser Leben. Was ist diese nun?

Micha macht hierzu drei konkrete Aussagen:

Die erste übersetzt Luther: „Gottes Wort halten“. Im Urtext steht: Der Herr fordert von dir nichts als „Recht tun“. Nicht allgemein ist hier an Gottes Wort gedacht, das zu halten wäre, sondern: „die Rechtsordnung tun“, d.h., den Lebensraum der Gebote annehmen, den guten Willen Gottes, wie er ihn Israel vom Sinai her anvertraut hat, in der Umwelt zu leben. Das zielt mitten hinein in die Lebenspraxis, in unser Reden und Tun, Tag für Tag. Da sollen wir „Recht tun“, jedem und gerade den Schwachen ihr Recht zugestehen.

Liebe spielt dabei die zentrale Rolle. Das zeigt sich in der Fortsetzung unseres Verses:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist: Recht tun, Liebe üben.“

Das Zweite können wir einfach als Kommentar zum Ersten ansehen. Gottes Rechtswillen tun, das ist eben wesentlich: Liebe üben, denn darauf zielen alle Gebote. Daran hängt ja, wie Jesus sagt, das ganze Gesetz und die Propheten. Was ist Liebe? Das Wort, das im hebräischen Urtext steht, bedeutet so viel wie „Solidarität“ oder „Gemeinschaftssinn“, das Verbundenheitsverhältnis zwischen Gott und den Menschen wie der Menschen untereinander.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr bei dir sucht: Gottes Rechtsordnung tun und Gemeinschaftssinn üben.“

Dem dienen alle Gebote, darauf kommt es an: die gute Gemeinschaft mit Gott weiterhin zu erfahren und die gute Gemeinschaft unter den Menschen zu stärken. Insofern ist Solidarität ein Begriff der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung mit Wurzeln, die tief in das Alte Testament zurückreichen. Jene biblische Begründung von Solidarität festzuhalten und in Kirche und Öffentlichkeit zu vertreten ist Sache aller Christinnen und Christen.

Gottes Rechtsordnung tun und Gemeinschaftssinn üben – eins ist untrennbar mit dem anderen verbunden. Das sieht man auch daran: Im Alten Testament heißt das Wort, das wir im allgemeinen mit „richten“ übersetzen, im Grunde soviel wie „schlichten“; richten und schlichten, das ist alttestamentlich eins. Rechtsprozesse sollen dem Zweck dienen, zerrüttete Gemeinschaft wieder herzustellen. Deshalb ist der Rechtswille Gottes gut für den Menschen.

Das Dritte, was gut ist für den Menschen, heißt nach Micha: „demütig sein vor deinem Gott“. „Demut“ – dieser Begriff ist unter uns ein wenig außer Gebrauch geraten, und das auch nicht ohne Grund. „Demut“ verlangten früher die Tyrannen von ihren Untertanen. Aber das ist hier nicht gemeint. Das hebräische Wort an dieser Stelle bedeutet so viel wie Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Wachsamkeit. Was ist also gut für den Menschen?

„Aufmerksam, besonnen, wachsam mitgehen mit deinem Gott.“

Was für ein schönes Bild: aufmerksam mitgehen mit deinem Gott. Gehe mit Gott, von dessen Wohlwollen du aus dem Alten und Neuen Testament wissen darfst. Du darfst mitgehen, aufmerksam mitgehen mit dem Gott, der dir deinen Weg bahnt durch gute und schlechte Tage, ja durch den Tod hindurch ins Leben. Sieh nur immer aufmerksam auf ihn, so wird dein Fuß nicht gleiten, so wird er dich ans Ziel führen, in sein Reich, nach seinem guten, liebevollen Plan.

Weil ich diese Zuversicht des Glaubens haben darf, deshalb möchte ich mit meinen Mitmenschen so leben: Ungebrochen solidarisch! In diesem Sinn wünsche ich allen Veranstaltungen am 1. Mai einen von Gott gesegneten Verlauf.

Johannes Rehm, Leiter kda Bayern

Bild: Science Photo Library via Canva

1. Mai, Geistliches

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