MÜNCHEN. Für über fünf Millionen Menschen sind die Jobcenter Garant ihrer Existenzsicherung. Doch die Behörde ist auch umstritten. Ein neuer KWA-Report untersucht, wie ein menschliches und effizientes Jobcenter der Zukunft aussehen könnte. Für das bundesweite Projekt hat der kda mit Expert*innen aus der Praxis über ihre Erfahrungen und Visionen gesprochen. Lesen Sie hier das Interview mit Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters in München.
kda Bayern: Frau Farrenkopf, seit wann haben Sie beruflich mit dem SGB II und dem Jobcenter zu tun?
Anette Farrenkopf: Ich habe Arbeitsmarktmanagement an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit studiert und hatte dann verschiedene Funktionen in Arbeitsagenturen und Regionaldirektionen inne. Die Hartz-Reformen habe ich von der ersten Stunde an begleitet.
Gibt es in der Entwicklung des Jobcenters bestimmte Verfahren oder Instrumente, die Sie als besonders positiv oder besonders negativ herausheben möchten?
Markant war für mich der Schritt zum Teilhabechancengesetz in 2019. In der früheren Sozialhilfe gab es noch dauerhaft geförderte Beschäftigung, die dann aber ganz eingestellt wurde. Im SGB II zielten die Instrumente am Anfang in Richtung erster Arbeitsmarkt, was auch richtig und wichtig war. Aber es hat immer etwas gefehlt für Menschen, für die der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt nicht realistisch ist. Für die gab es bisher nur Arbeitsgelegenheiten. Das Teilhabechancengesetz bietet jetzt attraktive Beschäftigungsförderung und es gibt auch das nötige Geld, um sie zu finanzieren. Die individuelle Beratung, Förderung und Unterstützung von langzeitarbeitslosen Menschen ist der richtige Weg.
Sehen Sie das auch als einen Erfolg der Sozialverbände, die immer wieder einen „Sozialen Arbeitsmarkt“ eingefordert haben?
Ich denke, diese Forderung war eine ganz wichtige Unterstützung. Wir sind ja jetzt auch in anderen Zeiten. Im Jahr 2005 hatten wir mit fünf Millionen Arbeitslosen eine Massenarbeitslosigkeit, die es galt in den Griff zu bekommen. Da gab es natürlich noch viel marktnähere Kunden, denen es einfach an geeigneten Arbeitsstellen fehlte. Jetzt geht es wirklich darum, jeden so zu unterstützen, dass der Weg in den Arbeitsmarkt möglich wird.
Gab oder gibt es aus Ihrer Sicht auch problematische Instrumente im Jobcenter?
Was ich nach wie vor schwierig finde, ist die Komplexität der Rechtsmaterie des SGB II. Nehmen wir zum Beispiel das Individualprinzip in der Bedarfsgemeinschaft. Wenn die Bedarfsgemeinschaft fünf Mitglieder hat, müssen bei jeder Änderung fünf Bescheide erstellt werden. Das ist sehr komplex in der Sachbearbeitung. Wir würden uns lieber stärker um die Integration der Menschen kümmern. Durch die vielen Urteile von Landessozialgerichten und vom Bundessozialgericht wird die Rechtslage noch komplexer.
Das klingt nach einer schwierigen Aufgabe. Wie wirkt sich diese Komplexität auf die Mitarbeitenden aus?
Ich denke, es ist nicht einfach, im Jobcenter zu arbeiten. Die Kolleginnen und Kollegen wollen sich für Menschen engagieren. Da kann die umfassende Rechtsmaterie manchmal schon erschwerend sein.
Ich möchte nun einige Bereiche des Jobcenters nennen und Sie jeweils nur um eine kurze, assoziative Bewertung bitten. Wie beurteilen Sie die angebotenen Weiterbildungsmaßnahmen des Jobcenters?
In München haben wir ein sehr breites Angebot an Weiterbildungsmaßnahmen. Es gibt eigentlich nichts, was es nicht gibt. Ich denke es ist ein gutes Angebot. Weiterbildung ist für manche Menschen ein sehr langer Weg, gerade wenn man zum Beispiel Fachkraft werden will und einen Abschluss machen möchte. Es wäre wünschenswert, wenn auch finanzielle Anreize vorhanden wären, um so eine Weiterbildung durchstehen zu können. Da hoffen wir auf ein Änderungsgesetz im Jahr 2021.
Wie würden Sie die Arbeitsvermittlung bewerten?
Wir haben in München eine gute Situation, weil wir sehr viele Betriebe und Jobangebote haben. In unserer Dienstleistungsstadt gibt es Gott sei Dank auch etliche Angebote für Ungelernte. Jetzt mit Corona ist es natürlich nochmal eine andere Situation.
Wie sehen Sie die Leistungen zum Lebensunterhalt?
In einer teuren Stadt ist es schwieriger von Grundsicherung zu leben als anderswo. Bei den Kosten der Unterkunft werden die hohen Mieten in München natürlich berücksichtigt, aber für die anderen Lebenshaltungskosten gilt bundesweit ein einheitlicher Regelsatz. Insoweit ist es in München besonders schwierig, vom Regelsatz zu leben. Da bin ich sehr froh, dass es ein großes freiwilliges Angebot der Landeshauptstadt München gibt mit Spendenmitteln und anderen Förderungen.
Und wie beurteilen Sie das Klima im Jobcenter?
So etwas beurteilt man selber vielleicht am unkritischsten (lacht). Wir tun sehr viel in Richtung positive Psychologie. Wir setzen das als Führungsprinzip ein. Die Sinnhaftigkeit der Aufgabe, der Beitrag zum großen Ganzen steht im Mittelpunkt. Wir erhoffen uns, dass diese positive Haltung letztendlich in der Beratung auf die Kundinnen und Kunden überspringt. Ich kann zu einem Kunden sagen: „Sie sind seit zehn Jahren arbeitslos, Sie können das nicht!“ Oder ich kann mit einer Beratungshaltung herangehen und fragen: „Was können Sie? Was haben Sie schon geleistet in Ihrem Leben? Was machen Sie im Hobby gut, was Sie vielleicht zum Beruf machen könnten? Was haben Sie in Ihrem Herkunftsland schon alles bewältigt?“ Diesen positiven Ansatz betreibe ich ganz stark und ich wünsche mir, dass er auch ankommt.
Wenn Sie es einmal in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen: Wann ist das Jobcenter wirklich erfolgreich?
Das Jobcenter ist dann erfolgreich, wenn der Kunde bei uns rausgeht und sagt: „Die haben mir helfen können.“ Zu uns kommt natürlich keiner gern. Das ist so, weil man einfach in einer persönlichen Notsituation zu uns kommt. Unser erster Schritt ist deshalb die unbürokratische Sicherstellung der Existenz. Dann folgt das gemeinsame Arbeiten an einem Ziel, nämlich an der Integration in Arbeit, Qualifizierung oder Ausbildung. Oder es ist zunächst nötig, die familiäre Situation oder eine Schuldenproblematik zu klären. Wenn der Kunde dann sagen kann, das Jobcenter hat mir einen Schritt weitergeholfen, ich glaube, dann sind wir erfolgreich.
Im Folgenden lese ich sieben gängige Aussagen vor, die man über das Jobcenter zu hören bekommt. Bitte sagen Sie mir, ob die Aussagen stimmen oder nicht.
“Das Jobcenter hilft Menschen wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen.”
Ja.
“Das Jobcenter fördert eine Angstkultur.”
Ich hoffe nicht.
“Sanktionen sind notwendig, um grundlegende Regeln der gemeinsamen Arbeit einzuhalten.”
Ja.
“Kürzungen am Existenzminimum verletzten die Menschenwürde.”
Wenn sie zu stark eingreifen. Ich kann das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2019 voll mittragen. Da ist jetzt auch geregelt, wie hoch der Eingriff sein darf.
“Wer seine Termine nicht einhält, hat die Grundsicherung wohl nicht wirklich nötig.”
Nein, also da muss man bei jedem einzelnen Kunden genau hinschauen. Es gibt Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, die einfach nicht aus dem Haus gehen können oder überfordert sind, einen Termin wahrzunehmen. Vielleicht hat auch eine alleinerziehende Mutter Gründe dafür, dass sie einmal nicht kommen konnte. Ich glaube, das Wichtige ist zu erkennen, warum jemand einen Termin nicht wahrnimmt. Neunzig Prozent der Menschen kann man dann helfen. Wir machen auch einen zweiten oder dritten Anlauf. Aber es gibt auch ein paar wenige, die prinzipiell ihre Termine nicht wahrnehmen. Da finde ich, dass man für die Leistungen, die man bekommt, wenigstens zur Beratung gehen kann. Dieses Minimum der Mitwirkung ist obligatorisch.
„Besuche von Jobcenter-Mitarbeitenden bei den Kundinnen zu Hause können dem Jobcenter helfen, die Situation und die Bedürfnisse der Kundinnen besser zu verstehen.“
Es muss vielleicht nicht gleich der Gang in die Wohnung sein. Nicht jeder Kunde möchte uns gerne in der Wohnung haben. Es kann auch ein neutraler Ort sein. Wir versuchen zum Beispiel in Einrichtungen zu beraten, in Jugendeinrichtungen oder in Bildungslokalen, um unseren Kundinnen und Kunden ein Stück entgegenzukommen, um vielleicht diese Hemmschwelle „Jobcenter“ zu überwinden. Da muss man schauen, was der richtige Weg ist.
Jetzt kommen wir zum Thema Weiterentwicklung des Jobcenters. Stellen Sie sich vor, Sie könnten ein SGB-II-Änderungsgesetz selbst formulieren. Was würde sie gern ändern?
Zunächst die Weiterbildung. Wir müssen Anreize schaffen für mehr Weiterbildung. Die Fachkräfte werden ja gebraucht, auch nach Corona. Zwei Drittel unserer Kundschaft im Jobcenter München sind Ungelernte. Man sieht es jetzt wieder in der Corona-Krise: Wer fällt zuerst raus aus der Beschäftigung? Derjenige, der keinen Abschluss hat. Von daher wünsche ich mir einen deutlichen Anreiz, eine Weiterbildung durchzustehen. Das zweite, was mir wichtig wäre, ist eine Entbürokratisierung, zum Beispiel durch Bagatellgrenzen bei Geldrückforderungen. Ich glaube die Kapazität für Bürokratie sollte man einfach besser in Beratung investieren, um den Menschen zu helfen. Ein dritter Aspekt wäre der soziale Arbeitsmarkt. Da könnten wir nach dem Teilhabechancengesetz noch weitergehen. Zum Beispiel könnte man die Arbeitsgelegenheiten noch verändern und entbürokratisieren. Ein vierter Punkt: Man muss die Instrumente des Jobcenters auch mit Geld hinterlegen, wie es beim Teilhabechancengesetz gelungen ist. Wenn wir in die Menschen investieren, finden sie auch wieder ihren Ansatz in der Gesellschaft und können in Beschäftigung auch wieder ihren Beitrag leisten. Die Investition lohnt sich.
Wenn Sie jetzt mal auf die Corona-Krise schauen, in der der Zugang zu Leistungen des Jobcenters vereinfacht wurden. Würden Sie von diesen Regeln etwas übernehmen für die Zeit danach?
Ja, wenn man sich den Grundsicherungsantrag anschaut mit den vielen Unterlagen, wäre es schon schön, ein Stück Vereinfachung in die Zukunft zu retten.
Aber die Bedarfsprüfung würden Sie wieder einführen?
Da bin ich jetzt zu sehr ausführende Behörde, als dass ich mich politisch zu Vermögensgrenzen äußere. Das ist ein schwieriges Thema: Ab wann sollte die Grundsicherung greifen und was muss vorher an eigenem Vermögen selbst investiert werden.
Zum Schluss: Wie könnte das Jobcenter der Zukunft aussehen?
Mein Bild ist, dass wir positive Impulse bei den Kunden setzen, so dass die sich mit Motivation auf den Weg machen in Ausbildung und Arbeit.
Wenn Sie jetzt nicht Leiterin, sondern Architektin eines Jobcenters wären: Wie sollte das ideale Jobcenter der Zukunft räumlich gestaltet sein?
Ich könnte mir vorstellen, im Eingangsbereich einen tollen digitalen Selfservice aufzubauen, wo der Kunde in der Lage ist, vieles zu erledigen, wozu er zuhause vielleicht nicht die technischen Möglichkeiten hat. Wir werden dort nicht mehr Kopierer, sondern Scanner für die Kunden bereithalten – die Unterlagen gelangen dann direkt in unsere elektronische Akte. Der Online-Antrag läuft easy und problemlos. Es soll ein sehr offener Bereich sein, den Kunden gerne aufsuchen . Ich könnte mir auch Beratungslounges vorstellen, in denen man sich nicht am Schreibtisch mit Computer gegenübersitzt, sondern in Beratungsecken, in denen wir auch eine Tasse Kaffee anbieten können. Es wäre ein anderes Setting, in dem man sich wohler fühlt und das mögliche Barrieren abbaut. Beibehalten möchte ich, dass wir viele soziale Dienstleistungen in einem Haus anbieten, also nicht den Bürger von Leistung zu Leistung laufen lassen, sondern die Netzwerke und Angebote um den Bürger herumorganisieren.
Vielen Dank für das Interview!
Interview: Philip Büttner, wissenschaftlicher Referent, kda Bayern
Hinweis: Diskussionen mit Bundestagsabgeordneten, Expert*innen und Betroffenen zu diesem Thema können Sie in der Aufzeichnung zur Online-Tagung “Jobcenter der Zukunft – Existenzsicherung neu denken” nachverfolgen. Die Veranstaltung am 25. Juni 2021 war eine Kooperation von KWA und Diakonie.
(Foto: Martin Hangen)