Plötzlich systemrelevant – Geflüchtete sollen bei der Ernte helfen können

NÜRNBERG/MÜNCHEN. Geflüchtete, die bisher keiner Beschäftigung nachgehen durften, weil zum Beispiel ihre Identität nicht geklärt war, sollen nun auf Empfehlung des bayerischen Innenministeriums unter gewissen Umständen doch eine befristete Arbeitserlaubnis erhalten – um beim Einbringen der Ernte zu helfen.

Eine Besonderheit der aktuellen Krise ist, dass jeder und jede von ihren Auswirkungen massiv betroffen ist. Egal ob durch plötzliche Veränderung des Arbeitslebens oder massive Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit. Eine Gruppe, die bisher schon im besonderen im alltäglichen Leben eingeschränkt ist, sind Geflüchtete in Bayern, die aus unterschiedlichen Gründen keiner geregelten Arbeit nachkommen dürfen und zusätzlich in Sammelunterkünften leben müssen. Bisher galt im Freistaat die Devise „Abschiebung vor Arbeit“. Dies traf vor allem diejenigen Geflüchteten, die ihre Identität nicht hinreichend belegen konnten oder deren Abschiebung bereits formal eingeleitet war. Dafür reicht schon die Eröffnung des Verfahrens aus, zum Beispiel die Aufforderung Pässe vorzulegen. Ein solches Verfahren kann sich aber durchaus Jahre hinziehen. Währenddessen dürfen die Betroffenen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen.

Geschlossen Grenze, viel Arbeit, wenig Hände

Nun hat die Schließung der Grenzen aufgrund der aktuellen Corona-Krise dazu geführt, dass viele Erntehelfer*innen aus osteuropäischen EU-Staaten nicht in der beginnenden Erntesaison mitarbeiten können. Das Staatsministerium hat daraufhin die Ausländerbehörden in einem Infobrief aufgefordert, diesen Umstand als „gewichtigen, positiven Ermessensaspekt“ in ihrer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Das bedeutet, wo die Behörden bisher einen Ermessenspielraum negativ ausnutzen, soll nun für relevante Bereiche positiv entschieden werden. „Unsere Landwirte bekommen ihre Ernte von den Feldern. Das hilft, die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Und Asylbewerber haben die Chance auf einen Job und ein Stück weit finanzielle Selbstständigkeit“, begründet Innenminister Joachim Herrmann seine Intervention. Auch Landwirtschafsministerin Michaela Kaniber unterstützt den Appell an die Ausländerbehörden. „In der gegenwärtigen Krisensituation können Bayerns landwirtschaftliche Betriebe jede tatkräftige Unterstützung gebrauchen. Die bayerische Land- und Ernährungswirtschaft ist gut aufgestellt, die aktuelle Situation zu meistern. Es zeigt sich jetzt, wie wichtig eine regionale Lebensmittelversorgung ist. Jeder ist herzlich eingeladen, hier mit anzupacken.“ Man müsse jetzt alle Kräfte mobilisieren, damit der absehbare Mangel an Saisonarbeitskräften ausgeglichen werde, sagte sie laut Pressemitteilung des Ministeriums.
Der Verein matteo – Kirche und Asyl würde aber noch gerne weitergehen, wie er in einem offenen Brief an Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger formuliert: „Der ‚Spurwechsel‘ ist in Corona-Zeiten nicht mehr zu vermeiden, selbst wenn man langfristig aus guten Gründen weiter auf Trennung von Arbeitsmigration und Asyl setzen möchte. Wir bitten Sie, nun rasch und notfallmäßig den Asylbewerbern und Flüchtlingen den Weg in Arbeit und Ausbildung zu öffnen (…). Das würde die Not in vielen Bereichen, in der Ernte, in der Pflege, im Verkauf lindern, wo wir dringend helfende Hände benötigen. Es wäre auch ein Gebot der großen gesellschaftlichen Solidarität, dass nun alle mittun müssen, unser Land sicher und gesund durch die Krise zu bringen.“

Jeder Mensch soll arbeiten dürfen

Natürlich ist es ein Gebot der Stunde, dass in Krisenzeiten Ausnahmeregelungen getroffen werden müssen, gerade wenn es um die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung geht. Es ist zu begrüßen, dass hier auch Geflüchtete einen Beitrag leisten dürfen. Doch eine Beschränkung auf die Tätigkeit als Erntehelfer oder die Versorgung mit „Waren des täglichen Bedarfs“, noch dazu eine ausdrücklich zeitlich befriste, erscheint durchaus zynisch. „Einen Beitrag zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts und des gesellschaftlichen Lebens ist ein menschliches Grundbedürfnis und sollte allen bei uns lebenden Menschen für die Dauer ihres Aufenthalts ermöglicht werden“, sagt Diakon Martin Deinzer vom kda Bayern. „Es wäre eine gute Gelegenheit, die Erteilung von Arbeitserlaubnissen und Ausbildungsduldungen generell neu auszurichten und endlich auch Menschen mit unsicherer Bleibeperspektive eine Ausbildung und Arbeit zu ermöglichen“. Denn auch nach der Krise wird es genug für alle zu tun geben.

(Foto: jai79/ pixabay.com)

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