„Unerhört!…diese Arbeitslosen“

MÜNCHEN. Wie können sich Erwerbslose Gehör verschaffen – in der Arbeitswelt, im Jobcenter, in der Politik und in der Kirche? Darüber diskutierten 30 Betroffene, Interessierte und Expert*innen beim Sozialpolitischen Buß- und Bettag in der Münchner Evangeliumskirche im Hasenbergl.

Durch das kürzlich gesprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit bestimmter Sanktionen im SGB II gewann die Veranstaltung an aktueller Brisanz. Wie geht es eigentlich den Menschen in Hartz IV, die am oder gar unterhalb des Existenzminimums leben? Diesen Fragen folgend sollte der Abend einen guten Einblick in die Lebenssituation Langzeiterwerbsloser gewähren. Ausgangspunkt war die im Herbst von der Stuttgarter Denkfabrik gGmbH veröffentlichte Studie „Unerhört! Langzeiterwerbslose Nichtwähler melden sich zu Wort.“

Der Initiator der Studie, Martin Tertelmann, stellte deren wesentliche Erkenntnisse vor. Angeregt durch eine Auswertung der Bertelsmann-Stiftung, die den Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenquote einer Region und der dort bestehenden Wahlbeteiligung aufzeigte, initiierte die Denkfabrik im Jahr 2015 bundesweit Interviews von Langzeiterwerbslosen, in denen erforscht werden sollte, warum diese nicht wählen gehen. Dazu qualifizierte sie Langzeiterwerbslose als Interviewer, um Augenhöhe zu gewährleisten. „Wenn nämlich ein Professor einen Langzeiterwerbslosen interviewt, dann wird es schnell zum Verhör“, so Tertelmann.

Als roter Faden zog sich durch die Interviews, dass sich Langzeiterwerbslose von der Politik nicht vertreten fühlen. „Man hört uns nicht, man nimmt uns nicht ernst und es ändert sich nichts an unserem Leben“, fasste Tertelmann zusammen. Neben dieser Erkenntnis bieten die Interviews tiefe Einblicke in die Lebenswirklichkeit Langzeiterwerbsloser, wie Tertelmann mit Zitaten in seinem Vortrag verdeutlichte. Sie zeigen Menschen, die ihr Leben in täglicher Knappheit führen müssen, die sich ausgegrenzt und abgehängt erleben und die im Kontakt mit Jobcentern immer wieder Erfahrungen der Ohnmacht angesichts bürokratischer Willkür machen. In der Konsequenz fühlen sie sich als Bürger*innen zweiter Klasse, verlieren sie Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und würden sich aus Scham am liebsten unsichtbar machen.

So ernüchternd die Studie die Situation Langzeiterwerbsloser beschreibt, so weist sie doch auch einen Weg, diese Situation zu verbessern. So sagte Tertelmann: „Unsere Interviewer waren nach den Gesprächen immer sehr bewegt – und die Interviews haben viel ermöglicht, obwohl sie nur zugehört haben. So sind viele der Interviewten danach wieder zur Wahl gegangen. Das heißt, dass es eigentlich ganz einfach wäre, Langzeiterwerbslose wieder in die Gesellschaft hinein zu holen – indem man ihnen nämlich einfach mal zuhört.“

Dies entspräche auch dem, was Tertelmann als „Chor der Langzeiterwerbslosen“ bezeichnet, der folgende Botschaften an Politik und Gesellschaft hat: „Hört uns zu, interessiert euch für unsere Lebenswirklichkeit. Behandelt uns respektvoll. Erkennt unsere Lebensleistung an. Schafft mehr soziale Gerechtigkeit und macht nicht nur Politik für die Wirtschaft. Seid ehrlich und haltet Wahlkampfversprechen ein. Und behandelt uns vor allem wie Menschen.“

Wigbert Baumann, selbst langzeiterwerbslos und Vorsitzender des Landeserwerbslosenausschusses von ver.di Bayern, bestätigte manche Einsichten der Studie, so etwa, was es bedeutet, ein Leben in täglicher Knappheit zu leben. „Wenn ein Großgerät kaputtgeht, wird es schwierig. Bei mir war es der Kühlschrank.“ Auch schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter zählen dazu. Als er einmal aufgrund eines Zahlendrehers verspätet zum Termin erschien, zeigte die Mitarbeiterin zwar Empathie, kürzte ihm sein Existenzminimum dennoch um 130 Euro. „In dem Bescheid stand: wegen Vergesslichkeit.“

Dorothea Kroll-Günzel, Geschäftsführerin der Aktion „1+1 – mit Arbeitslosen teilen“ unter dem Dach des kda Bayern, verknüpfte ihre Erfahrungen mit den Erkenntnissen der Studie: „Was ich gehört habe, ist nichts Neues für mich. Wenn ich in Projekten mit den Menschen rede, die wir wieder in Arbeit gebracht haben, und sie frage: Was ist jetzt anders?, dann erzählen sie oft: Ich habe wieder Selbstbewusstsein, kann vor allem wieder meine Finanzen planen.“

Zudem unterstrich Kroll-Günzel, dass Langzeiterwerbslose politische Unterstützung brauchen können, um sich Gehör zu verschaffen. „Unsere Erkenntnis ist es, dass es Brückenbauer für Langzeiterwerbslose braucht, da es nicht von alleine passiert, dass die Politik sie hört.“ Dies bestätigte Baumann: „Ein Sprachrohr zu haben ist wichtig, auch, sich zusammenzutun, aber es ist schwer, sich zu sammeln und zu motivieren. Für mich ist es auch wichtig, dass ich in meiner Heimatstadt Bezüge habe wie den Würzburger Arbeitslosentreff, die Diakonie oder das Sozialkaufhaus. Und ich bin konsequent bei den ver.di-Arbeitslosen, weil ich in Würzburg etwas bewegen will, zum Beispiel einen Sozialpass oder ein Sozialticket, wie es sie in München schon gibt.“

Auch Monika Funk, Bereichsleiterin in der Diakonie Hasenbergl, knüpfte an die Studie an, indem sie deutlich machte, wie wenig Wirkung Sanktionsmaßnahmen bei ihren Klient*innen in der Jungen Arbeit, einer Ausbildungsstätte für junge Erwerbslose, zeigen: „Bei den meisten Jugendlichen ist das völlig unwirksam. Wenn sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben, kompensiert das diese Gemeinschaft, was diese Gemeinschaft zusätzlich unter finanziellen Druck setzt. Ein alleinstehender Jugendlicher taucht hingegen einfach ab, verelendet ganz schnell, wird vielleicht auch kriminell, hat vielleicht noch eine Adresse, wohnt aber rum, wie wir das nennen, indem er Couchsurfing betreibt.“

Was die jungen Menschen hingegen bräuchten, ist Begleitung. „Durch Begleitung befähigen wir sie, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Gerade Übergänge von der Schule in die Ausbildung und von der Ausbildung in den Beruf müssen gut begleitet sein.“ Diese aufsuchende Form der Arbeit werde in München sehr geschätzt. „Bei unseren kommunalen Zuschussgebern sind wir anerkannt und etabliert. Der Stadtrat hat ein offenes Ohr für unsere Belange. Ich hoffe, dass es so weitergeht.“

Denn die Arbeit trägt Früchte; vier von fünf Jugendlichen schaffen ihre Ausbildung. „Diejenigen, die da sind, sind zufrieden, insbesondere, wenn sie freiwillig da sind. Die Auszubildenden haben die Rolle gewechselt, die Lebenswirklichkeit hat sich gedreht, weil sie was tun. Und diejenigen in unseren Beschäftigungseinrichtungen empfinden sich als Beschäftigte, auch wenn sie formal in Hartz IV sind. Sie erleben sich selbstwirksam und selbstbewusst und werden anerkannt.“

Ermutigend waren auch die Antworten der Podiumsteilnehmer*innen auf die Schlussfrage von Moderator Philip Büttner: „Was macht Ihnen Hoffnung?“ Monika Funk freut sich, dass bei der Bayerischen Armutskonferenz 2020 das Thema „Arbeitslosigkeit“ prominent behandelt wird. Wigbert Baumann hofft auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in Folge des aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteils und will selbst als Kandidat bei der Kommunalwahl einen Beitrag dazu leisten. Und Dorothea Kroll-Günzel setzt darauf, Langzeiterwerbslose zu motivieren, sich auch in kirchliche Gremien wählen zu lassen, damit auch dort ihre Stimme besser gehört wird.

Mit Andacht, Gebet und Segen beschlossen Dekan Felix Reuter und Pfarrer Peter Lysy gemeinsam den Abend.

Titelbild (v. links): Philip Büttner (kda Bayern), Monika Funk (Diakonie Hasenbergl), Wigbert Baumann (ver.di Bayern), Dorothea Kroll-Günzel (Aktion 1+1), Martin Tertelmann (Denkfabrik gGmbh) (Foto: kda Bayern)

Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität

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