Armuts-Hearing der Initiative Rechte statt Reste

MÜNCHEN. Beim Fachhearing der kirchlich-gewerkschaftlichen „Initiative Rechte statt Reste“ diskutierten Expert*innen aus ganz Bayern über Ernährungsarmut und Energiearmut.

Armut in unserem reichen Land? Für manche ist das nur ein statistisches Konstrukt, für andere jedoch bittere Realität. Armutsprobleme wie Mangelernährung und Hunger gibt es nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Deutschland. Die Zahl der Menschen, denen es an lebensnotwendigen Dingen wie Nahrung oder Haushaltsenergie fehlt, ist hoch. So sind ca. 1,5 Millionen Menschen auf die Lebensmittelspenden der Tafeln angewiesen. Über 350.000 Haushalten in Deutschland wurde aufgrund von Energieschulden Strom oder Gas gesperrt.

Menschenrecht auf ausreichende Ernährung

Beim Hearing am 24. Juli im Münchner Gewerkschaftshaus haben 50 Fachleute aus Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden und Erwerbsloseninitiativen aus ganz Bayern mit Referent*innen verschiedener Fachrichtungen diskutiert. Die Soziologin Sabine Pfeiffer zeigte anhand eines Vergleichs europäischer Statistiken, dass Deutschland wenig Erfolg bei der Bekämpfung der Ernährungsarmut vorweisen kann. Der Rechtsanwalt Rüdiger Helm legte die juristischen Probleme bei Stromsperrungen dar. Der Sozialethiker Franz Segbers und der Menschenrechtsexperte Michael Krennerich analysierten das Armutsproblem in engem Bezug zum „UN-Sozialpakt“, einem völkerrechtlich bindenden Vertrag, der u.a. das Menschenrecht auf einen „angemesse­nen Lebens­stan­dard“ ein­schließlich aus­re­ichen­der Ernährung, Bek­lei­dung und Unter­bringung garantiert. Aus diesem Blickwinkel lassen sich Armutsphänomene als Menschenrechtsverletzungen verstehen.

Berichte aus der Hartz-IV-Realität

Die fachlichen Impulse wurden durch Stimmen aus der Praxis ergänzt. Irmgard Ernst vom Münchner Arbeitslosenzentrum (MALZ) und Bernd Eckhardt vom Ökumenischen Arbeitslosenzentrum (ÖAZ) in Nürnberg erläuterten, dass das „Existenzminimum“ in der Hartz-IV-Realität oft nochmal empfindlich gekürzt wird, z.B. durch Sanktionen, falsche Einkommensanrechnung, Tilgung von Energieschulden oder Mieten, die vom Jobcenter nicht voll übernommen werden. In manchen Fällen stünden Hilfebedürftigen dann im Monat für Ernährung, Strom, Kleidung, Körperpflege, Mobilität, Kommunikation etc. statt 416 Euro nur noch 150 Euro zur Verfügung.

Tafeln auf Augenhöhe?

Zwei weitere Praxisbeiträge beleuchteten das Problem aus anderer Warte. Brigitte Sobetzko vom Münchner Caritas-Projekt „Manna“ schilderte die Herausforderung, eine Tafel auf Augenhöhe und gemeinsam mit ihren Nutzer*innen zu organisieren. Martin Marcinek, der bei verdi Bayern die Beschäftigten der Energiewirtschaft vertritt, wies darauf hin, dass das Problem von Stromsperrungen politisch gelöst werden müsse. Die Angestellten der Energieversorger, die Stromsperren vor Ort in den betroffenen Haushalten technisch umsetzen müssten, sollten dafür nicht den Kopf hinhalten.

Lesung „Heart’s Fear“

In der Pause bot das Programm eine Lesung der Schauspielerin und Autorin Bettina Kenter-Götte aus ihrem neuen Buch „Heart’s Fear“ – einem eindrückliche Bericht eigener Erfahrungen aus ihrer Zeit als Hartz-IV-Bezieherin. So schilderte Kenter-Götte eine Vollsanktion des Jobcenters: „Du bekommst nichts mehr, und bald hast du auch nichts mehr, nichts auf dem Konto, nichts im Portemonnaie, kein Geld, nicht für die Miete, nicht für Essen, nicht für Medikamente, und es liegt im Ermessen deines Fallmanagers, ob er dir einen Lebensmittelgutschein gewährt.“

Initiative Rechte statt Reste schreibt Bericht an UN

Die Initiative Rechte statt Reste wird die Erkenntnisse und Ergebnisse des Hearings in den kommenden Wochen in einem Bericht zusammenfassen und sich damit an einem Prüfverfahren der Vereinten Nationen beteiligen. Etwa alle fünf Jahre untersuchen die UN, wie es um die Sozialen Menschenrechte in Deutschland bestellt ist. Nichtregierungsorganisationen sind aufgefordert, bis Ende August 2018 so genannte „Parallelberichte“ zum Regierungsbericht einzureichen, die dann am 25. September 2018 in Genf verhandelt werden.

Nähere Informationen zum Stand des Staatenberichtsverfahrens lassen sich unter der Überschrift „CESCR – International Covenant on Economic, Social und Cultural Rights“ auf den Seiten der UN nachsehen: https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/TreatyBodyExternal/Countries.aspx?CountryCode=DEU&Lang=EN

Aktuelle Infos zur kirchlich-gewerkschaftlichen Initiative Rechte statt Reste gibt es auf Facebook: https://www.facebook.com/rechtestattreste/

Titelbild: Einige Vertreter*innen der Initiative sowie die Hauptreferent*innen des Hearings von links nach rechts: Christian Bindl (Betriebsseelsorge München), Efthymia Tsakiri (Diakonie Bayern), Dorothea-Kroll-Günzel (kda Bayern), Dr. Rüdiger Helm (Kanzlei huber.mücke.helm), Prof. Dr. Sabine Pfeiffer (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), Bettina Kenter-Götte (Autorin des Buches „Heart’s Fear“), Prof. Dr. Franz Segbers (Philipps-Universität Marburg), Philip Büttner (kda Bayern), PD Dr. Michael Krennerich (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg).

Fotograf: Hubert Thiermeyer, ver.di Bayern

Armut, Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeit

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