“Da möchte man, dass die Zeit stillsteht!”, höre ich es von rechts. Ich sitze mit einem guten Freund in einem Weinberg in Franken, den Blick auf die Mainschleife, die Sonne im Gesicht und um einen herum nur Stille.
„Ja“, denke ich mir, „das wäre jetzt was. Paradiesisch ist es hier. Unwirklich in der aktuellen Zeit. Die Zeit anhalten. Den Augenblick festhalten. Die große Pausentaste drücken, so dass die Zeit still steht für mich im Hier und Jetzt.“, so denke ich mir, „Ja, das hätte was.“
Für viele Menschen ist es gerade nicht angesagt, dass die Zeit stillstehen soll: in der Welt unzählige Katastrophen, der Krieg, so viel unmenschliches Leid, unzählige körperliche und seelische Wunden, die aufgerissen werden, die viele Zeit, die es brauchen wird, diese zu schließen. „Vielleicht viel mehr Zeit als einem einzelnen Menschen gegeben ist…“, denke ich mir.
In meiner Arbeit habe ich ganz viel mit Zeit zu tun, vor allem mit der Zeit der anderen: mit Arbeits- und Pausenzeiten, mit Lenkzeiten im Speditionswesen, mit Zeitarbeit, mit unbezahlter Mehrarbeitszeit, mit notwendiger transparenter Zeiterfassung, mit Zeitkonten, mit so wichtigen Ruhezeiten, mit der Zeit, die Menschen plötzlich “übrig” haben, wenn sie nicht mehr vom Arbeitgeber benötigt wird, mit der Zeit, die sich Menschen nehmen, wenn sie Seminare oder Veranstaltungen des kda besuchen.
Ich denke an die vielen Menschen, die sich die Zeit nehmen und sich ehrenamtlich engagieren, die sich der Menschen aus den Kriegsgebieten annehmen, in Kirchengemeinden ihre Zeit “opfern”, in Vereinen, in Gewerkschaften, in Betriebsräten oder Mitarbeitervertretungen. Ich denke an so viele Menschen in unserer Gesellschaft, die einfach nicht genügend Zeit haben, etwa für ihre Kinder, für Angehörige, für Eltern, die gepflegt werden müssen, weil sie zwei, drei oder noch mehr Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen.
Und ich? Ich möchte gerade hier und jetzt in diesem Weinberg die Zeit anhalten. Ist das in Ordnung? Ist das zu egoistisch – mein Wunsch, die Zeit anzuhalten? „Zeit, das ist eh so ein seltsamer Begriff.“, denke ich mir. Wie ein Ding, welches ich behandeln, welches ich verwalten oder mir aneignen könnte. Als ob ich mir die Zeit aneignen und sie stillstehen lassen könnte.
„Alles hat seine Zeit.“, heißt es im dritten Kapitel des Predigerbuches im Alten Testament. Vom Leben ist da zu lesen, vom Geboren werden, vom Pflanzen und vom Weinen, vom Klagen, vom Schweigen und vom Reden. „Alles hat seine Zeit.“ Das liest sich schon schön. Aber nicht alle Zeit hat man, so denke ich mir. Von “kostbarer” Zeit hört man ja oft. Aber was macht die Zeit kostbar? Ich glaube, wenn ich meine Zeit mit anderen Menschen verbringen darf, dieses Erleben, das macht die Zeit kostbar.
Vielleicht ist es an der Zeit, mal wieder Menschen zu sagen, was sie gut machen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich zu bedanken, wenn sich jemand Zeit für einen nimmt, im Betrieb, bei einer Versammlung, unter Kolleg*innen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich bewusst Zeit zu nehmen für ein Gespräch, ein offenes Ohr für jemanden zu haben, der vielleicht gerade unter das Rad des Zeitdrucks gerät. Vielleicht ist es an der Zeit, Menschen für eine Auszeit zu begleiten, auch sich selbst Zeit zu nehmen.
Tief atme ich ein, sauge die Luft und die unzähligen Gerüche ein, die dieser Ort und die Jahreszeit gerade bieten. Ich koste diese Zeit, diesen Moment im Hier und Jetzt dieses Weinberges aus, ich genieße sie. “Auf, es ist Zeit!”, kommt es jetzt von rechts. Wortlos gönne ich mir einen letzten Blick auf die Mainschleife, klappe meinen Campingstuhl zusammen und mache mich auf den Weg zum Auto. „Ja“, denke ich mir, „alles hat seine Zeit.“
Ulrich Gottwald, kda Regionalstelle Augsburg
(Foto: Ulrich Gottwald/kda Bayern)