Vom Alter im Allgemeinen und vom Alter als sozialpolitischer Herausforderung reden derzeit viele. In meinem Arbeitsfeld, dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, treten wir im Auftrag unserer Kirche öffentlich für die Würde des Alters und der Pflegeberufe ein. Damit greifen wir einen biblischen Grundzug auf. In den Sprüchen Salomos heißt es: „Graue Haare sind eine Krone der Ehre, auf dem Wege der Gerechtigkeit wird sie gefunden.“ (16, 31) Das biblische Zeugnis weist die Generationen aneinander und legt uns Jüngeren Alte nachdrücklich ans Herz.
Meine Lebenserfahrung lehrt mich, dass die Erkenntnis eines Problems und ein sozialdiakonischer Appell nicht viel bewirken in einer Gesellschaft, in der durch die Werbung seit langem ein Jugendlichkeitskult gepflegt wird. Es ist nicht leicht, sich davon frei zu machen. Denn Eigenschaften der Jugend, Kraft, Schnelligkeit und Beweglichkeit sind es, die allenthalben verlangt und gefordert werden. Auch der biblisch gut begründete Appell, sich jetzt um die Alten zu kümmern, dringt nur ganz schwach durch.
„Vergeblich predigt Salomo, die Leute machen`s doch nicht so“, spottet Wilhelm Busch über Moralprediger. Warum ist das so? Vermutlich, weil der sinnvolle Appell, sich endlich um die Alten zu kümmern, bei uns als Gesetz ankommt. Und das Gesetz richtet bei Menschen nichts Gutes aus. „…durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3, 29), sagt Paulus im Römerbrief. Wir nehmen wahr, dass wir hinter dem zurückbleiben, was wir sein sollten, aber das ist auch schon alles. Deshalb ist das Gesetz ein schlechter Ratgeber im Allgemeinen und beim Thema Alter im Besonderen.
Schließlich ist dieses Thema nicht Gesetz, sondern es ist Evangelium: Denn im Alter ist es wichtig, gesagt zu bekommen, dass Gott uns annimmt, auch mit den dunklen Seiten unserer Lebensgeschichte. Im Alter brauchen wir spätestens eine Hoffnung über dieses Leben hinaus. Im Alter macht es einen Unterschied, ob ich für die christliche Gemeinde nur ein Betreuungsfall bin oder ein Gemeindemitglied, ein durch die Taufe zugehöriger Bruder in Christus. All das, was unseren christlichen Glauben ausmacht, all das bekommt im Alter und für alte Menschen noch einmal eine ganz andere Dringlichkeit: Jetzt kommt es darauf an, dass auf die christliche Verheißung Verlass ist. Ein alter Mensch spürt, dass er sein Verhältnis zu seinem Gott jetzt klären muss, dass es jetzt Zeit ist für das Evangelium.
Diese Dringlichkeit des Evangeliums angesichts der Ewigkeit bringt der Apostel Paulus auf den Begriff: „… denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.“(Röm 13, 11) Trifft das nicht gerade für alte Menschen mit ihren Lebensgeschichten zu? Sie stehen in besonderer Weise in der Zeit des Evangeliums und damit sind sie für uns ein wesentlicher Teil unserer Gemeinden – wesentlich im wahrsten Sinne des Wortes.
Im Themenkreis Alter erblicke ich eine wichtige sozialpolitische Herausforderung für meine Generation und insofern einen inhaltlichen Zusammenhang mit meiner übrigen Tätigkeit im kda. In der Altenheimseelsorge habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie mir selbst zum Evangelium wird. In der Begegnung mit alten Menschen erlebe ich immer wieder, was wirklich wichtig ist in meinem Leben. Für mich ist bedeutsam, im Horizont der Ewigkeit zu leben. Ich möchte darauf vertrauen und mir zusprechen lassen, dass Gott mir gnädig ist, dass mein Leben ein Ziel hat und dass ich, so wie ich bin, zur Gemeinde Jesu Christi gehöre.
Weil ich dieser heilsamen Erinnerung bedarf, deshalb empfinde ich Altenfürsorge nicht als Last, sozusagen: „darum müssen wir uns auch noch kümmern“, nicht als Gesetz, sondern als Evangelium. Denn es sind gerade die Alten, die uns die Dringlichkeit der Botschaft vom kommenden Herrn vor Augen führen. So geht von ihnen ein Segen aus, jenseits aller „Geschäfte“ und Geschäftigkeiten des Arbeitslebens sich die Gnade des Herrn gefallen zu lassen.
Dr. Johannes Rehm, Leiter kda Bayern
Foto: Immanuel Malcharzyk / Fundus